3. Kapitel (Tris)

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»Mom«, flüstere ich hinter ihrem Ohr.

Ich liege in den Armen meiner Mutter. Sie streichelt mir sanft übers Haar und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

Sie schiebt mich von sich und blickt mir in die Augen.

»Beatrice«, sagt sie und eine Träne kullert ihr über die Wange. »Wir haben nicht viel Zeit.«

»Warum?«, frage ich sie mit zittriger Stimme.

»Jeder Mensch wird, wenn er stirbt von dem verstorbenen Menschen begrüßt, den er am meisten liebt. Ich bin gekommen, um dich abzuholen.« Sie streicht mir sanft über die Wange. Außer sie nehme ich nichts anderes wahr. Alles was ich sehe sind Moms glänzende Augen.

»Genau, dass wollte ich verhindern. Dass du schon so früh zu mir kommst. Dass mein Opfer dich nicht retten konnte.« Tränen laufen über ihr blasses Gesicht. Sie tritt einen Schritt von mir weg. »Erst dein Vater, dann du und jetzt Caleb. Keinen konnte ich retten.«

»Mom!«, rufe ich und meine Augen beginnen zu brennen.

»Es tut mir so leid, Beatrice.« Sie entfernt sich immer weiter von mir. Ich will ihr folgen, doch so mehr ich es versuche, desto schneller verschwindet sie.

»Mom! Geh nicht! Was soll ich denn jetzt tun?«, schreie ich - oder vielleicht denke ich es auch nur.

»Ich muss gehen. Dein Bruder wartet auf mich.« Dies sind ihre letzten Worte, ehe sie ganz verschwunden ist.

Caleb. Warum muss sie zu Caleb? Ich habe doch seinen Tod verhindert. Was ist hier los?

Ich jage ihr hinterher.

Blind.

Flüchtig.

Achtlos.

Leer.

Ohne jeglichen Halt. Weiße Flure. Überall. Ich sehe Menschen, die hustend zu Boden fallen, doch ich kann ihnen nicht helfen. Sie ziehen einfach an mir vorbei. Ich kann nichts tun. Caleb. Ich finde ihn. Reglos liegt er am Boden. Seine Augen sind starr nach oben gerichtet. Sein Körper grotesk verdreht. Er atmet nicht mehr. Er ist tot.

Ich drehe mich im Kreis. Laufe wild durch die Gänge. Immer mehr sterbende Menschen. Warum?

»Du hast versagt! Du hast uns umgebracht!« Stimmen. Ich weiß nicht, wo sie herkommen. Es ist wie ein Chor. Wie ein Chor der Sterbenden.

»Du hast einen schrecklichen Fehler gemacht!« Mom. Ihre Worte dringen in mein Bewusstsein, doch ich sehe sie nirgends. »Du hast das falsche Serum im Amt verteilt.« Ihre Stimme ist ruhig und ich versuche verzweifelt sie zu finden, doch sie ist fort. »Du hast den Aktivierungscode in das Gerät eingegeben, welches das Todesserum freisetzt und nicht das Gedächtnisserum. Sie werden alle sterben.«

Nein. Unmöglich! Das kann nicht sein. Ich habe das Gedächtnisserum aktiviert - nicht das Todesserum. Ich war mir so sicher. Panisch starre ich die hustenden Menschen an. Wie sie verzweifelt nach Luft ringen und dann zu Boden sinken, wo sie schließlich ganz still und starr liegen bleiben. Das Todesserum und die Schussverletzungen - sie haben meine Sicht vernebelt. Wie kann ich mir da so sicher sein, nicht das falsche Gerät aktiviert zu haben? Ich habe versagt.

Es fühlt sich an, als würde mich etwas zerdrücken. Alles in mir schreit. Schreit nach Leben. Ich will Leben.

Ich dachte man würde keine Trauer und keine Sehnsucht nach dem Leben mehr spüren, wenn man tot ist, doch ich zerbreche unter dieser Last - unter diesem Schmerz. Ich wollte Vergebung finden, doch wie soll ich das tun, wenn ich für den Tod von allen diesen Menschen verantwortlich bin. Für den Tod meiner Familie. Meiner Freunde.

Ich will hier weg. Ich will das es aufhört, dass ich einschlafe und nie wieder aufwache. Alles nur nicht das hier. Diesen unerträglichen Schmerz.

Tobias.

Ich schreie.

Ich zerbreche.

Will, dass es aufhört. Doch es wird nicht aufhören. Niemals. Ich bin tot und es gibt kein Entrinnen. Ich kann nichts mehr tun, außer zuzusehen.

Ich suche ihn. Suche ihn zwischen all den Toten. Ewigkeiten schreie ich seinen Namen.

Ich finde ihn. Finde ihn sterbend. Seine Augen schließen sich gerade, als ich bei ihm bin. Sein Atem stockt. Sein Herz hört auf zu Schlagen. Er ist tot.

Alles in mir versucht zu ihm zu gelangen. Doch stattdessen entferne ich mich immer weiter von ihm. Ich rufe seinen Namen. Ich bin diejenige, die er liebt. Ich muss ihn abholen. Ich verspüre keinen größeren Wunsch, als ihn einfach nur noch ein letztes Mal zu begegnen. Doch ich warte unendlich lang. Verliere jegliches Zeitgefühl. Ich komme nicht zu ihm - er kommt nicht zu mir. Es kommt niemand um ihn zu holen. Und ich kann es nicht. Was ich auch tue, ich erreiche ihn nicht.

Er hat dich nie geliebt. Eine Stimme dröhnt in meinem Kopf. Meine Stimme.

Er hat nie jemanden wirklich geliebt. Auch nicht dich. Er war nie dazu fähig, aufrichtig zu lieben.

Ich versuche sie wegzuschieben, doch sie bahnt sich immer wieder einen Weg in meinen Kopf.

Er ist fort. Du wirst ihn nie wiedersehen.

Ich wehre mich. Will nicht zulassen, dass es in meine Gedanken dringt. Will es abschütteln. Doch es schlägt auf mich ein. Zusammen mit der Gewissheit, dass ich niemals Vergebung - niemals Frieden finde werde. Dass meine Eltern umsonst gestorben sind und nicht, wie ich immer dachte, an einem besseren Ort sind.

Es kann nicht sein. Ich kann nicht glauben, dass er die vielen Male, die er mir sagte, er würde mich lieben, gelogen hat. Doch warum konnte ich ihn dann nicht abholen? Warum, wenn meine Mutter doch meinte, jeder wird von der Person, die er am meisten liebt im Tod willkommen geheißen? Stattdessen ist niemand gekommen. Er ist alleine gegangen. Für immer fort. Für immer unerreichbar.

Ich liebe dich. Seine Worte hallen in meinen Ohren nach. Seine Stimme ruhig und ehrlich. Seine Augen dunkel und wachsam. Wut verjagt die Verzweiflung. Wenn ich eins weiß, dann, dass er mich geliebt hat. Er hat mich vor mir selber beschützt. Vor meinen inneren Drang mein Leben aufs Spiel zu setzten, um ein Opfer, wie meine Eltern zu bringen. Er wollte mir in den Tod folgen. Er hat mich seine tiefsten Ängste sehen lassen. Warum sollte er all das tun, wenn er mich nicht lieben würde?

Es muss ein Irrtum sein. Da muss irgendetwas falsch sein. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Ich bringe die Welt zum Explodieren.

Bringe sie zum Zerbersten.

Denn ich weiß es besser.

Ich bin mir sicher.

Die Bestimmung - Letzte AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt