6. Kapitel (Tobias)

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Langsam gleitet sie aus meinen Händen. In Zeitlupe schlägt sie an der Steinwand auf und zerspringt in tausend Splitter. Sie zerbersten in alle Richtungen und zersplittern immer und immer wieder, bis man ihre ursprüngliche Form kaum noch erahnen kann. Sie schweben immer tiefer in den Abgrund und funkeln auf dem groben, düsteren Gestein, bis sie schließlich von der tosenden Flut erfasst werden und ein Teil von dem werden, was sie einmal ganz still und starr verkörpert haben. Fallendes Wasser.

Und so wie die Glasskulptur zerspringt, zerfällt auch der Rest. Alles um mich herum löst sich auf. Meine Welt gerät aus den Fugen. Die Realität verliert ihr Gleichgewicht. Alles löst sich auf, nur ich stehe im Auge des Sturms. Ich sehe zu, wie sich alles als eine einzige Lüge entpuppt. Erkenne, dass keiner der Wege, über die ich gegangen bin, existierte. Dass keiner der Menschen, denen ich begegnet bin, real war. Dass keine der Tränen, die ich vergossen habe, einen Sinn hatte. Tris ...

Der Gedanke an sie lässt mich zurück in die Wirklichkeit schweifen. Er lässt mich den harten Boden unter mir spüren und das taube Gefühl in meinen Kopf. Er holt mich zurück in meine Zelle, in der die Wände sich auf mich zu bewegen und die Zeit stillsteht. Widerwillig schlage ich die Augen auf. Ich liege auf dem Fußboden. Keine Ahnung, wie ich dort hingekommen bin oder wie lange ich schon hier liege, geschweige denn, wie lange ich schon hier eingesperrt bin. Mein ganzer Körper kribbelt, wie wenn ein eingeschlafener Fuß langsam wieder aufwacht. Es ist furchtbar unangenehm und ich brauche lange, bis ich mich aufrichten kann. Ich erhebe mich und setze mich auf meine Pritsche. Da das Licht der Deckenlampe zu grell ist und mir noch üblere Kopfschmerzen bereitet, sitze ich im Dunklem und erkenne nur grob die Wände um mich herum, trotzdem gelingt es mir nicht sie auszublenden. Ich lege mich auf die harte, knochige Matratze und versuche meine Gedanken auf Tris zu lenken, auf den Funken Hoffnung, der als einziger den dunklen Raum erhellt.

Die Bestimmung - Letzte AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt