22. Kapitel (Tris)

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Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich höre jemanden schreien, bis ich begreife, dass es aus meinem Mund kommt. Ich stürze nach vorne – will zu ihm, doch die Wachen richten ihre Waffen auf mich.

»Bleib wo du bist!«, befiehlt die Frau mir. Ihr Gesicht hat harte Züge für eine Frau und ihre braunen Haare hat sie sich zu einem strengen Zopf gebunden. Doch mein Blick gilt nur dem am Boden liegendem Tobias. Auf seiner Brust bildet sich eine Blutlache und seine Augen sind geschlossen. Ich kann nicht erkennen, ob er noch atmet.

Er ist nicht tot. Er kann nicht tot sein.

Ich bin nur wenige Meter von ihm entfernt, doch, wenn ich mich auch nur einen Zentimeter näher auf ihn zu bewege, wird die Frau abdrücken – da bin ich mir sicher. Caleb sitzt zitternd auf dem Boden. Er starrt Tobias erschrocken an, doch auch er ist zu weit weg, um ihn auf Lebenszeichen zu untersuchen. Matthew hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Seine Arme beben. Ich blicke zu Zeke, welcher ebenfalls auf Tobias losgestürmt ist, doch auch er ist nicht viel weitergekommen als ich. Ihm steht der Schock ins Gesicht geschrieben.

»Nehmt sie mit und entsorgt den da. Wir lassen es wie ein tragischen Unfall aussehen.« Die Worte der Frau sickern nur schwer in meinen Kopf. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, was sie sagt. Ich wende den Blick von Tobias leblosen Körper ab und sehe sie an. Ich schlucke bittere Galle. Meine Augen brennen, als hätte sie jemand in Brand gesetzt. Sie kommt auf mich zu und packt mich an den Armen. Ich bin wie gelähmt. Mein Herzschlag donnert in meinem Kopf und ich vergesse zu atmen. Ich nehme die ganze Szene wie aus der Ferne wahr, als würde ich von weitem zuschauen.

Caleb wird von einem der Wachmänner hochgezogen. Jemand reißt Matthew die Hände vom Gesicht weg und packt ihn ruppig an der Schulter. Zeke schlägt um sich. Versucht wegzulaufen, doch er kommt nicht weit. Ich schließe die Augen. Ich höre einen Aufschrei. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen was passiert. Als ich sie wieder öffne, kniet Zeke am Boden. Krümmt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Er wird hoch gezerrt und halb schleift, halb schubst der Mann ihn vorwärts. Der Mann, der Caleb mit einer Hand festhält, ein mittelgroßer mit dunkelblondem Haar, bückt sich zu Tobias hinunter. Statt zu überprüfen ob er noch lebt, packt er ihn kaltblütig am Arm, als wäre er nichts weiter als eine Stoffpuppe und schleift ihn mit sich.

In diesem Moment brennt etwas in mir durch. Es ist als würde das Blut in meinen Adern in Flammen stehen. Ich fahre herum, ramme der Frau meinen Ellenbogen ins Gesicht, was sie zurück taumeln lässt. Ich stürze mich auf den Mann, welcher Tobias mit sich zerrt. Ich nehme nur undeutlich war, wie ich auf ihn einschlage. Caleb stolpert zur Seite. Ich höre Schüsse, doch sie zersplittern nur Glas oder reißen Löcher in die Wände. Irgendwie gelingt es mir, den Mann von Tobias zu lösen, ihn gegen eine Wand zuschleudern und ihm die Waffe aus den Halfter zu entwenden. Ich richte sie auf seine Brust.

»Lassen Sie alle sofort meine Freunde los oder ich schieße!« Meine Stimme klingt seltsam fremd, als würde nicht ich diese Worte sagen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Caleb langsam zu Tobias kriecht und zwei zitternde Finger an seinen Hals legt.

»Die Masche zieht nicht. Wenn du ihn nicht sofort freilässt, erschieße ich einen von deinen Freunden!«, brüllt der dunkelhäutige Mann, wobei er Zeke am Kragen schüttelt. Meine Hände fangen an zu zittern. Ich versuche sie ruhig zu halten, doch ich kann nichts dagegen tun. Mein ganzer Körper ist schweißüberströmt. Es ist aussichtslos.

Die lodernden Flammen in mir, kommen zum Stillstand. Heiße Tränen rinnen mir übers Gesicht. Ich versuche meine sich immer weiter ausbreitenden Gedanken einzukesseln und mir eine Strategie fürs hier und jetzt zu überlegen – irgendetwas, dass uns weiterhilft – doch sie gewinnen die Überhand über mich. Sie überwuchern mich mit Panik und Angst und eine lähmende Schwere legt sich über meinen Körper.

Die Bestimmung - Letzte AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt