Nike saß neben May, die einen Keks kaute, auf dem Bett, des sogenannten „Beta-Kevins" (der Name Alpha-Kevin war vergeben, hatte er ihnen erklärt) und sah sich aufmerksam im Zimmer um.
Kevin, der, wie die beiden bei näherem Hinsehen erkannt hatten, war nicht entstellt, sondern einfach nur hässlich. Eine unglaubliche Erleichterung.
„Also du bist auch mit deiner Schulklasse hier?", fragte May mit vollem Mund und tippte dabei immer wieder die grüne Kugel an. Kevin schob diese ein Stück weg, um näher an May rücken zu können.
„Mit meiner Arbeitsgruppe, wir brauchten mal Urlaub und da hab ich diese Burg vorgeschlagen." Nike zog die Augenbrauen nach oben und angelte sich einen Keks. „Ich bin sehr interessiert an Geschichte."
„Wer war Stalin?"
„Der hat doch einen Staubsauger erfunden."
„Was?"„Was?" Kevin begann, Mays Beine genauer zu betrachten, weshalb sie diese anwinkelte und somit zu sich aufs Bett zog. Er folgte mit seinem Blick, schüttelte dann den Kopf. „Jedenfalls interessiere ich mich für alte Geschichten und vor allem..." Aus seiner Tasche pfriemelte er nach längerem Versuchen ein altes Holzkreuz und hängte es sich um den Hals.
„Oh Gott, der ist ein Zeuge Jehovas", seufzte Nike und ließ sich gegen die Wand sinken. In Erwartung, eines schönen Vortrages und eine Bibel geschenkt zu bekommen, fixierte sie Kevin an.
„Nein, nein." Kevin schüttelte seinen Kopf erneut. „Ich interessiere mich für die Magie des Dunkelns, für die andere Ebene, für das Ungewisse..."
„Der Grund, warum eine Frau sauer ist?", fragte May scherzhaft.
„Sexistisch", ermahnte Nike, eine Hobbyemanze, sie.
Kevin kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Noch nie hatte er zwei Mädchen getroffen, die so schwer von Begriff waren. Aber da May so schöne Beine hatte, wollte er ihnen noch eine Chance geben. „Ich sehe mich selbst als Geisterjäger."
May und Nike seufzten gleichzeitig. „Sowas hatte ich befürchtet", gab May zu.
Die haben bestimmt mehr Angst vor ihm, als er vor ihnen, dachte Nike sich, während sie den dicklichen Jungen mit rundem Gesicht, stoppeligem Gesicht, ungemachten Augenbrauen über der Brille und mausbraunen, zu allen Seiten abstehenden Haaren.
„Und in dieser Burg gibt es...Geister?" May musste gegen den Drang ankämpfen, laut loszulachen. Um dies zu verhindern, petzte sie sich selbst in ihre Schwachstelle: Ihren Arm.
Kevin stand so plötzlich auf, dass beide Mädchen vor Schreck zurückzuckten und mit dem Kopf gegen die Wand stießen. Sie beobachteten, während sie sich den pochenden Schädel hielten, wie er zum Schrank ging, ein Buch herausangelte und sich wieder zu ihnen kehrte.
Dämonen für Dummies, war der Name des Buches, in dem Kevin nun wild herumblätterte.
May stupste Nike an und warf ihr den Wir-sollten-nun-unbedingt-gehen-wenn-wir-nicht-gekreuzigt-werden-wollen-Blick zu, den Nike mit dem Wird-doch-grad-erst-lustig-Blick beantwortete.
Er hielt an einer Seite an, die so vergilbt war, dass die Mädchen gar nicht wissen wollten, was alles damit geschehen war. Sein Finger glitt über die ranzigen Buchstaben und hielt beim Schriftzug Ravensky, den Nike nur schwer entziffern konnte, an.
„Ravensky ist eine Stadt voller interessanter Geschichten. Wie das Verschwinden dieses einen Mädchens..., aber das tut ja nichts zur Sache." May warf Nike einen Blick zu, den diese erwiderte. Von verschwundenen Mädchen wollten sie nun tatsächlich überhaupt nichts hören. Er widmete sich wieder dem Buch. „Jedenfalls gibt es rund um diese Burg eine uralte Sage, die mit dem früheren Besitzer zu tun hat." Er prüfte, ob sie ihm noch zuhörten und räusperte sich dann. „Im 18. Jahrhundert lebte ein Graf namens Johann Valdis mit seinen vier Töchtern und seiner Gattin, zudem massenhaft Bediensteten."
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Sleepless
Mystery / ThrillerNike, Jo und May sind eigentlich nicht sonderlich interessiert an der alten Burg, in der sie nun mit der Schulgruppe ihre Zeit verbringen müssen, eher an den männlichen Mitstreitern. Als dann jedoch einige seltsame Dinge rund um einen alten Fluch ge...