Chapter 11

10 0 0
                                    

Als die beiden sich aufgerafft hatten und überstürzt die Balkontür hinaus stolperten, konnten sie in der nächtlichen Dunkelheit nur eine Gestalt ausmachen, die einige Meter von ihnen entfernt auf dem Balkon stand. Der Brustkorb der Person hob und senkte sich, als wäre sie soeben einen Marathon gelaufen. Nike.

May kam zuerst bei ihr an und erkannte, dass Nike mit dem Rücken zu ihnen gedreht stand und in die Ferne starrte. „Es war einfach weg." Sie hatte sich nicht einmal umgedreht, um der Freundin die Neuigkeiten mitzuteilen.

Jo, die aufgeschlossen hatte, biss sich auf die Lippe. Wie hoch war die Chance, dass jemand ihnen Drogen verabreicht hatte und das alles nur Einbildung gewesen war? Trotz der geringen Möglichkeit, betete sie für diese Lösung.

Eine Gestalt, die mitten in der Nacht im Zimmer stand und sie beim Schlafen beobachtete, fand sie nun doch nicht sonderlich prickelnd. Eigentlich überhaupt nicht.

Ohne sich umzudrehen, ging Nike weiter. Es musste hier irgendwo sein. Es konnte sich nicht in Luft auflösen. Das war nicht sonderlich logisch.

Sie stockte kurz. Für einen Geist wäre das möglich. Oder einen Dämon. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie lief schneller, als könnte sie ihn dadurch abschütteln. Sie zwang sich, weder nach links oder rechts zu gucken, aus Angst, es könnte auftauchen, und lief stur geradeaus. Der Regen prasselte ihr mit voller Wucht ins Gesicht, als gäbe es da irgendeine höhere Macht, die auf jeden Fall verhindern wollte, dass sie hier draußen waren.

May war direkt hinter ihr, lief aber deutlich unsicher und sah ständig zu allen Seiten, ebenfalls nach oben. Man konnte ja nie wissen. Und so kam es auch, dass sie es war, die entdeckte, dass eine weitere Balkontür weit offen stand. Sie hielt an und versuchte, in der schier endlosen Dunkelheit des Zimmers etwas zu erkennen, das fahle Mondlicht war keine sonderlich große Hilfe.

Der Regen lief ihr kalt den Nacken hinunter und sie schüttelte sich und bereute es kurz, dass sie geduscht hatte. Jo war neben ihr angekommen, sagte aber nichts und guckte nur in das kleine Zimmer hinein.

Sie zuckten beide zusammen, als aus diesem ein leises Schluchzen zu vernehmen war.

„GEISTER!", schrie May und sah zu, dass sie wegkam. In diesem Fall rannte sie in Richtung Nike, wobei sie auf dem rutschigen Holzboden ins Schlittern kam, an der verwunderten Nike vorbeirutschte und gegen das alte, vermoderte Geländer stieß. Sie hatte Glück, es war noch stabil genug, um sie zu tragen. Keuchend trat sie zurück, dieses Mal vorsichtiger.

„Ich glaub, das ist kein guter Ort, um Eiskunstlauf zu üben", witzelte Nike, obwohl sie an ihrer jetzigen Situation eigentlich wenig Lustiges fand.

May drehte sich langsam um und schon verging Nike das Lachen. Im Gesicht ihrer Freundin zeichnete sich die blanke Angst ab: Ihr blasses Gesicht wirkte noch blasser als sonst, fast durchsichtig, selbst aus den rötlichen Wangen war alle Farbe gewichen. Ihre Augen waren geweitet und die nassen Haare klebten ihr im Gesicht, wobei sie keine Anstalten machte, diese zu entfernen.

„Meine Güte, was ist denn mit dir los?" Nike rüttelte May, die nicht antwortete, leicht an den Schultern. Als sie dann nur ächzende Laute hervorbrachte, rüttelte sie heftiger, dass Mays Kopf die Bewegung mitmachte.

Diese wandte sich los und deutete dann in Richtung des offenen Zimmers, ohne den Blick von Nike abzunehmen. Zu groß war die Furcht davor, was sie beim Zimmer sehen würde. „Da macht was Geräusche."

Nike zog eine Augenbraue nach oben, was May zum Seufzen brachte. Sie deutete immer aggressiver. Warum konnte Nike sich nicht einfach umdrehen und selbst sehen, dass die Tür offen stand?

„Die Tür. Offen. Daraus. Geräusche. Geister!"

„May, ich verstehe dich nicht, wenn du sprichst, als wärst du ein Zufallsgenerator für Wörter." Dann dachte Nike einige Sekunden darüber nach, was genau diese Worte zu bedeuten hatten. Und sie verstand. „Oh!"

Beide sahen zur Tür und nun entdeckte auch Nike, dass sie offen war. Und noch etwas fiel auf: Jo war nicht mehr hinter ihnen.

Mit dem Versuch, nicht auszurutschen, hasteten sie auf die Tür zu, wobei beide dauernd „JO!" brüllten, jedoch keine Antwort erhielten.

Der Dämon, der Dämon hat sie geschnappt!, dachte Nike panisch und auch, wenn sie wusste, wie dumm das klang, bekam sie das Bild mit Jo und dem Dämon, der sie gefangen hielt, nicht aus dem Kopf. Bald, da war sie sich sicher, würden Jos Überreste auch in einem Glaskasten, den niemand besuchte, ausgestellt werden.

Sie betraten das Zimmer unsicher. Beide waren sich sicher, es nicht mehr lebendig zu verlassen.

„Gibt's hier keinen Lichtschalter?", wisperte May mit zittriger Stimme. Sie konnte nichts erkennen. Das konnte aber auch eventuell daran liegen, dass ihre Brille noch im Zimmer lag. Unkontrolliert holperte sie durch das Zimmer, bedacht darauf, mit ihrem Fuß zu fühlen, was vor ihr lag.

Ihr Fuß berührte etwas Weiches. Und als ob das sie nicht genug erschreckt hatte, musste das Weiche sich dann auch noch mit einem lauten „AUA!" beschweren. Nicht nur May gefiel dieser Kommentar nicht, auch Nike begann, gleich ihrer Freundin, panisch schreiend im Zimmer herum zu hüpfen. Im Dunkeln tastete sie nach May und spürte etwas, was sich stark nach einem Arm anfühlte. Erleichtert aufatmend umklammerte sie diesen. „Da bist du ja."

Ein lautes Krachen und ein Rumpeln danach veranlasste Nike dazu, noch ein Stück an ihrer Freundin zu rücken. Keine der beiden wagte sich, einen Ton zu machen.

Binnen einer Sekunde war das ganze Zimmer erhellt und Nike musste erstmal ihre Augen zusammenpetzen und dann langsam wieder öffnen, um überhaupt was erkennen zu können. Was sie dann sah, war etwas unerwartet.

Jo, am Lichtschalter, die mit allwissendem Blick zu ihr hinüberschielte und tonlos den Kopf schüttelte. Sie lebte. Allein dieser Fakt veranlasste Nike dazu, erleichtert aufzuatmen und zu May zu gucken. Gut, blöderweise entpuppte sich die vermeintliche May als dicker Wintermantel, der an der Garderobe hing. Schnell ließ sie den Ärmel los und ging ein Stück auf Jo zu, wobei sie so tat, als hätte sie die ganze Zeit Bescheid gewusst.

Erst nun sah sie die komplette Szenerie.

Das Krachen und Rumpeln, das war May gewesen. In ihrer Panik war sie gegen den Bettpfosten des Doppelbettes gerannt und schmerzhaft auf den Boden gefallen. Nun lag sie dort, mit angewinkelten Beinen und komisch verdrehten Armen und brabbelte irgendwelche Worte benommen vor sich hin.

Gut, es war möglich, dass sie übertrieben hatten.

Neben May auf dem Boden saß ein schluchzendes Häufchen Elend, das sie nach kurzem Hinsehen als Alyssa identifizierte. Sie befanden sich also im Zimmer von ihr und Christie. Christie, die abwesend war. Besser so wahrscheinlich.

Jo half May auf die Beine, die sich mit schmerzverzerrtem Blick den Kopf hielt. Dann wandte sie sich an Nike, die immer noch regungslos an der Tür stand.

„Christie ist verschwunden", erklärte sie leise, was Alyssa noch lauter zum Schluchzen brachte.

SleeplessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt