„Und eigentlich ist Christie ein total netter Mensch, wenn man sie näher kennt. Sie ist sehr verletzlich, deshalb stellt sie sich manchmal kalt, aber sie auch sehr fürsorglich. Ich fühle mich zum Beispiel nicht wohl bei jedem, nur ganz selten. Und bei Christie, da kann ich vollkommen ich selbst sein und deshalb müssen wir sie unbedingt finden. Sie hat Probleme in ihrer Familie, vielleicht hat sie sich irgendwohin verzogen. Oder jemand war eifersüchtig auf unsere tiefe Freundschaft und..."
May, die ein Stück weiter vorne lief, presste ihre Lippen fest gegeneinander und versuchte, jegliche Reaktion zu vermeiden. Jetzt, wo Alyssa redete, wie ein menschlicher Wasserfall, vermisste sie doch die schluchzende Beatbox-Alyssa. Warum tat sie sich das an?
Sie liefen schon seit gefühlt einer dreiviertel Stunde im Gebäude herum und natürlich fanden sie keine Anhaltspunkte. May ballte ihre Hände zu Fäusten, als Alyssa begann, fröhlich weiter zu plappern. Darüber, wie Christie und sie sich kennengelernt hatten.
Eigentlich hatte sie es nicht vorgehabt, aber May spielte mit dem Gedanken, einen Mord zu begehen. Ein Mädchen war ja schon weg, wer würde dann noch nach der anderen fragen.
„Wobei ich glaube, dass es Schicksal war, dass wir uns getroffen haben. Ein Engel, der mir geschickt wurde..."
„Bist du nicht eigentlich schüchtern?", fragte May sichtlich genervt.
Alyssa schloss auf und versteckte ihre Hände hinter ihrem Körper. Sie hatte einen leicht hüpfenden Laufstil, wenn May sie so beobachtete. „Ja, aber mit dir kann man so gut reden."
Lag möglicherweise daran, dass Alyssa die letzten zehn Minuten durchgelabert hatte und May dazwischen nicht mal Zeit hatte, laut auf zu schnauben.
„Mhm, ich bin da super." May nickte und setzte ein Lächeln auf, das so offensichtlich falsch war, es hätte Alyssa ins Gesicht springen können. „Sei doch bitte wieder schüchtern, ja?"
„Ähm...wieso?" Alyssa schien langsam zu verstehen, das May nicht sonderlich Lust auf tiefgründige Gespräche hatte.
„Danke." May lief schneller, um nicht mehr in Alyssas Gesicht sehen zu müssen. Sie schloss jedoch sofort wieder auf.
„Ach, ich verstehe. Du bist gestresst, weil du nicht so enge Freundschaften hast." Wenn ich sie jetzt erwürge, dann fällt das keinem auf. „Wenn wir sie finden, können wir dir zeigen, wie das geht, keine Angst."
May vermisste die wimmernde Trauer-Alyssa. Die hatte etwas Beruhigendes gehabt.
„Ich bin zufrieden mit Jo und Nike, danke." Sie ging noch schneller.
Man hörte anhand ihrer Stimme, dass Alyssa langsam die Puste ausging, was May unglaublich glücklich machte. „Aber das kann man nicht vergl..."
May hielt ruckartig an und drehte sich um, wobei sie Alyssa mit ernsten Augen betrachtete. Alyssa blieb, circa einen Meter von ihr entfernt, ebenfalls stehen.
„Weißt du, was ich glaube?" May verschränkte die Arme. Alyssa sagte nichts. „Ich glaube, du hast keine Ahnung von Freundschaft." May wollte sie nicht verletzen, auf keinen Fall, aber sie war übermüdet und sie hatte keine Lust mehr, zu getextet zu werden. „Mann, du läufst ihr doch nur hinterher! Hast du überhaupt so etwas, was sich eigenen Charakter nennt? Persönlichkeit?"Alyssa senkte ihren Blick und biss sich auf die Lippe. May merkte sofort, dass sie das Falsche gesagt hatte. Alyssas Tränen, die kurz darauf über ihre Wangen kullerten und auf den Boden fielen, waren nur eine Bestätigung. Keine der beiden bewegte sich, niemand sagte etwas. Die Kerze neben den beiden flackerte wild hin und her und bestrahlte leicht ihre Gesichter.
DU LIEST GERADE
Sleepless
Mystery / ThrillerNike, Jo und May sind eigentlich nicht sonderlich interessiert an der alten Burg, in der sie nun mit der Schulgruppe ihre Zeit verbringen müssen, eher an den männlichen Mitstreitern. Als dann jedoch einige seltsame Dinge rund um einen alten Fluch ge...