„War da was?", murmelte May, die mit Nike zitternd durch den dunklen Flur schlurfte. Die Dunkelheit hatte sich um sie gelegt wie ein Fischernetz und es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich dieses zusammenzog und die beiden nicht mehr herausließ.
Nike hatte ein Quietschen hinter ihnen gehört, wagte es aber nicht, sich umzudrehen. Jo würde sich schon darum kümmern.
May stieß Luft aus und blieb stehen, was Nike, im Anbetracht der Tatsache, dass sie ihren Arm umklammert hielt, ebenfalls dazu zwang, auf der Stelle zu bleiben. May drehte ihren Kopf. Ihre Erwartung eine genervte Jo hinter ihnen zu sehen, wurde jedoch nicht erfüllt. Sie drehte ihren ganzen Körper und suchte ihr spärliches Blickfeld ab.
Eigentlich müsste Jo, wenn sie nun rational dachte, innerhalb der nächsten Sekunden hier auftauchen. Eigentlich müsste sie aber auch ihre Schritte hören. Das tat sie nicht. Es herrschte hier eine unheimliche Stille, die nur von Nikes lautem Seufzen unterbrochen wurde.
„Müssen wir uns echt GPS-Chips einbauen? Das kann ja wohl nicht wahr sein!", beschwerte sie sich, ungeachtet der Personen, die sie hätte wecken können.
Den Gedanken, dass Jo vielleicht einfach wieder schlafen gegangen war, verwarf May schnell wieder. So hätte Jo nicht gehandelt.
Es war nicht sonderlich angenehm, durch die Burg zu spuken und wenn sie jetzt auch noch wie in einem Horrorfilm, alle nacheinander verschwanden, hätte Nike lieber kehrt gemacht und wäre einfach in ihr Bett gekrochen. Das Problem mit Jo ließ sich aber nicht wegschlafen. Zumindest nicht, wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen war. Nike hoffte, dass Jo nur irgendetwas Interessantes gefunden und dort stehengeblieben war.
„Erst Schreie, dann ist Jo weg..." May schüttelte energisch ihren Kopf. An Dinge, die eventuell geschehen konnten, wollte sie erst gar nicht denken. Sie wollte nun lieber positiv durch die Gänge Schlendern und in jeder Spinnenwebe einen bunten Schmetterling sehen. So oder so ähnlich. „Wir sollten zurück und den Weg nach ihr absuchen. Vielleicht betreibt sie irgendwo einen Powernap."
Diesen Gedanken konnte Nike nicht abstreiten und so zuckte sie nur mit den Schultern. „Ja, besser als rumstehen."
„Ich hasse Schulausflüge", erzählte May Nike, als sie ihren Weg zurückgingen. „Entweder jemand wird krank, es regnet pausenlos oder eine Gruppe hat Streit."
„Das stimmt", pflichtete Nike ihr bei und fuhr sich durch die verstrubbelten blonden Haare. „In unserem Falle stimmt alles: Christie ist von Langeweile befallen und verschwindet, der Regen ist, glaub ich, Inventar der Burg und wir haben Streit. Streit mit so nem blöden Dämonen." Mit diesen Worten kickte sich leicht gegen ein Steinchen, das vor ihnen lag und es schlitterte geräuschvoll den Gang entlang, bis es irgendwo auftrat und verstummte.
May hielt die Luft an, als das Geräusch des Steines durch ein weiteres Geräusch ersetzt wurde. Eindeutig Schritte, die immer lauter wurden, was wohl bedeutete, dass jemand auf sie zulief.
Sie strengte ihre Augen an, aber sie konnte nicht weiter sehen, als das nächste Licht flackerte. Das Geräusch wurde lauter und die Abstände zwischen Stille und Geräusch kürzer.
Sie sah den Kerzenleuchter an der Wand an, der sich zwei Kerzenhalter entfernt von ihnen befand. Sie konnte nur das Licht erkennen, aber nun sauste etwas dunkles daran vorbei und das Licht erlosch.
May stockte. Auch Nike neben ihr, die gerade noch selbstbewusst weitergelaufen war, verlangsamte ihr Tempo erheblich. Man hörte erneut nur Schritte. Schnell, kleine Schritte.
„Jo?", brachte May unter höchster Anstrengung hervor. Das Zittern beschwerte ihre Stimme. Sie war sich nicht sicher, ob das überhaupt angekommen war.
Eine weitere Flamme erlosch. Irgendetwas wehte an ihr vorbei. Es war dunkel und flatterte bei Bewegung.
Nike ergriff Mays Hand. „Das ist nicht Jo", wisperte sie, ohne die Augen von der nächsten Kerze zu lassen. Die letzte Kerze vor der, an der sie gerade bewegungslos standen. Nike war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie konnte nur zusehen, wie eine Gestalt im schwarzen Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, auch diese Kerze mit einem gekonnten Schlag zum Ausgehen brachte.
May brachte nur ein Wort heraus, bevor sie und Nike zurückstolperten und kehrt machten, so schnell sie konnten.
„Bogie."
***
„Autsch...", wimmerte Jo, die auf der anderen Seite hart gegen eine Wand gestoßen und anschließend mehr oder weniger bewusstlos zu Boden gesunken war. Sie rappelte sich soweit auf, dass sie kniete, dann tastete sie nach ihrer Brille, die sie bei dem Aufprall verloren hatte und betete, dass sie nicht kaputt war. Nicht, dass die Brille ihr viel gebracht hätte, es war in diesem Raum stockdunkeln. Sie hätte nicht einmal ihre eigene Hand sehen können, wenn sie gewollt hätte. Da ihre Hand stark pochte und sie sich sicher war, dass sie stark blutete, war Jo froh darüber, sie nicht ansehen zu müssen.
Der Boden war rau und staubig. Jede einzelne Berührung tat ihr weh und zu allem Übel wirbelte ihr der Staub nur so um die Nase. Ihr Kopf begann, zu drücken und sie musste ein Husten stark unterdrücken, sodass sich in ihren Augen Tränen bildeten und ihr bald die Wangen hinunterglitten.
Tapfer versuchte sie jedoch weiterhin, ihre Brille zu finden. Schließlich fühlte sie sich ohne irgendwie nicht wie sie selbst und war zudem noch ziemlich aufgeschmissen.
Sie drückte sich an der Wand hoch, zitternd und voller Schmerzen, um ein Stück weiter zur Wand zu kommen, durch die sie her geraten war. Wahrscheinlich war ihr die Brille dort schon vom Kopf gewirbelt worden.
Jeder ihrer Schritte tat ihr weh und ihre Beine knickten ständig kraftlos zusammen. Sie dachte, sie würde ohnmächtig werden, stützte sich mit beiden Händen gegen eine Wand und begann, zu husten. Ihre Beine gaben nach und sie sank auf den Boden, wodurch sie noch mehr Staub in Bewegung setzte. Er schnitt ihr die Atemwege zu. Ihr Herzschlag raste und ihr Kopf schien eine tickende Zeitbombe zu sein.
Verzweifelt begann sie, sich hinzulegen, Beine und Arme von sich zu strecken und eine Art Schneeengel, nur ohne Schnee oder Fröhlichkeit, zu machen, nur in der Hoffnung, sie würde ihre Brille so schneller spüren.
Dort war sie nicht. Und Jo war sich auch nicht mehr sicher, durch welche Wand sie gekommen war. In ihrem Kopf sah sie schon den Zeitungsbericht, wenn man hier ihre Leiche fand.
Falls man mich überhaupt findet, dachte sie mit tränenden Augen. Ihre Kopfschmerzen und Hustenreize wurden stärker und verweigerten ihr das Aufstehen. So lag sie auf dem Rücken und starrte in das unendliche Nichts über ihr.
Sie schüttelte sich leicht. Ihr fleuchten bestimmt einige Krabbelviecher umher, die über sie herfallen würden, sobald sie sie fanden.
Wenn sie nun sterben würde, würde sie May und Nike nie sagen können, warum sie tatsächlich hier war. Das würde ihr zwar einige Peinlichkeiten ersparen, dennoch war es sehr schade. Zudem würde sie sich nie bei Carlotta für ihre Freundlichkeiten bedanken können.
Sie dachte an Carlottas Profilbild, das, wo sie so lebendig lächelte, und ihr Hustenreiz, der zuvor eine Höllenqual gewesen war, schien nun wie ein kleiner Schluckauf zu sein.
Wenige Sekunden lag sie da, in Gedanken an das Bild, bis sie sich selbst die flache Hand gegen die Stirn schlug. Dann fühlte sie in ihrer Tasche und ertastete ihr Handy. Natürlich hatte sie es eingepackt.
Auf die eigene Gefahr hin, eine Ratte entdecken zu können, zog sie es schwungvoll heraus. Ihr Lebensretter war da.
Sie öffnete die Taschenlampe und leuchtete den Bereich vor sich ab. Viele dunkle Flecken, wohl einige Staubansammlungen und Dinge, die sie gar nicht benennen wollte, aber nichts ähnelte ihrer Brille. Sie strengte ihre Augen an, sodass sie ihr wehtaten, aber sie konnte nichts eindeutig identifizieren.
Hinter hier ertönte ein leichtes Krachen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das bedeutete wohl, dass sie nicht alleine hier war. Die Tatsache, dass das Geräusch nicht von einer Ratte stammen konnte, machte ihr weitaus größere Angst als eine kreuchende Ratte.
Das Klirren von Glas ließ Jo für einen kurzen Augenblick einfrieren.
Sie wusste nicht, worüber sie nun mehr nachdenken wollte: Dass, die Brille die ganze Zeit unmittelbar hinter ihr gelegen hatte oder dass, das nun jemand unmittelbar hinter ihr auf der Brille stand.
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Sleepless
Mystery / ThrillerNike, Jo und May sind eigentlich nicht sonderlich interessiert an der alten Burg, in der sie nun mit der Schulgruppe ihre Zeit verbringen müssen, eher an den männlichen Mitstreitern. Als dann jedoch einige seltsame Dinge rund um einen alten Fluch ge...