Wie immer setze ich mich neben Karl.
Karl ist geschätzt nicht viel älter als Anfang zwanzig und eine recht angenehme Gesellschaft für Rabbit Hole-Verhältnisse, zumindest sieht er kurz vom Bildschirm auf und nickt mir zum Gruß knapp zu, als ich den Stuhl neben ihm nach hinten schiebe und mich mit meiner Coca Cola darauf fallen lasse. Es ist die perfekte Balance zwischen Ignoranz und Aufdringlichkeit, zudem ist es ein unausgesprochenes Gesetz, dass der Platz neben ihm immer frei ist, wenn ich nicht gerade darauf sitze.
Ich weiß nicht einmal wieso. Vielleicht habe ich mir hier doch mehr Respekt erarbeitet, als ich ahne. Vielleicht aber liegt es mehr an dem Respekt, den man Karl entgegenbringt. Niemand hier weiß mehr von ihm als seinen Vornamen und dass er eigentlich fast immer hier herumlungert. Das ist ein Punkt für ihn, denn die meisten hier sind recht neugierig.
Vielleicht könnte ich etwas über ihn in Erfahrung bringen, aber vermutlich tue ich es absichtlich nicht, um ihm auch ein bisschen Respekt zu zollen. Es ist mir auch schlichtweg egal, wer Karl ist und ob Karl überhaupt sein tatsächlicher Name ist. Ich mag ihn recht gerne, also geht es mich nichts an. Und auch sollte ich niemals vergessen, dass ich hier drin weder Dominik Bauer noch ABYSS, sondern einfach nur Ratte bin.
Während ich mein Netbook auspacke und auf Pattys scharfen Blick hin meine Brötchen und meine Pepsi light wieder in den Rucksack stecke, höre ich nur das gleichmäßige Klackern von Karls Laptop, während seine Finger als einziger beweglicher Punkt seines Körpers über die Tasten tanzen. Es ist beinahe erschreckend, in welcher Geschwindigkeit er seine Tastatur in und auswendig kennt.
Noch spannender finde ich allerdings seinen Gesichtsausdruck dabei, der quasi nicht existent ist. Er hat dieses undurchdringliche Pokerface, das ich mir nur wünschen kann. Dasselbe hat er, wenn er seine Hardware abbaut und mit zur Toilette oder mit zur Theke nimmt. Den gleichen Gesichtsausdruck, wenn wir manchmal zu späteren Stunden an der Bar sitzen und ein paar belanglos fachsimpelnde Worte austauschen.
Und an genau denselben Ausdruck erinnere ich mich auch, als wir vor ein paar Tagen noch in den frühen Morgenstunden auf den Barhockern gesessen sind und uns wirklich sinnlos betrunken haben. Was wir gesprochen haben weiß ich nicht mehr, wie es zustande gekommen ist genausowenig. Ich erinnere mich an nichts außer an sein ausdrucksloses, fast wächsernes Gesicht mit derselben nicht vorhandenen Mimik wie immer.
Natürlich kann ich mich auch täuschen, aber es ist eben das, was ich mit Karl verbinde. Gut möglich, dass er genauso selten trinkt wie ich und deswegen genausowenig verträgt. Aber es wäre auch möglich, dass er mehr weiß als ich und dass genau deswegen seine Augen immer wieder in fast regelmäßigen Abständen über den Rand des Bildschirms huschen, um ungefähr meinen Haaransatz zu mustern.
Ich schlucke und schaue auf den immer noch unangetasteten Startbildschirm meines Netbooks. Die Sitzplätze im Rabbit Hole sind praktischer- und logischerweise so aufgebaut, dass die allermeisten zu einer Wand zeigen, damit einem niemand über die Schulter in den Bildschirm schauen kann.
Alle anderen Plätze, die übrig bleiben und trotzdem genutzt werden, sind auch nur dann besetzt, wenn die betreffenden Personen gerade einen Actionfilm oder Pornografie anschauen. Andere Filmgenres habe ich noch nicht mitbekommen, aber so etwas ist auch herzlich langweilig und wird nur selten genutzt. Meist auch nur, wenn die anonymen Sitzplätze gerade alle belegt sind.
Das Publikum wechselt. Öfters mal an einem Tag, schleppend auch im Allgemeinen über die Jahre hinweg. Es werden keine Fragen gestellt, wohin manche Leute verschwinden. Manchmal tauchen sie wieder auf, manchmal auch nicht. Karl war schon hier gesessen, als ich das erste Mal einen Fuß ins Rabbit Hole gesetzt habe. Ich habe ihn sicherlich nie gefragt, wie viele Schichtwechsel er schon miterlebt hat, wie viele Menschen er schon kommen und gehen sah.
Vielleicht interessiert mich das auch mehr als die Frage, ob er wirklich Karl heißt und auch mehr als die Frage, die wievielte Dose Red Bull für heute gerade vor ihm steht. Ich habe ihn nie etwas anderes trinken sehen, nicht einmal Kaffee. Ungefähr einmal in zwei Stunden raucht er eine selbstgedrehte Zigarette. Ansonsten starrt er einfach nur auf seinen Bildschirm und tippt in gefühlter Lichtgeschwindigkeit geräuschvoll auf seiner Tastatur.
Manchmal scheint er auf etwas zu warten. Dann trommelt er mit den Fingern auf dem Tisch, als würde er das gleichmäßige Klackern seiner Tasten vermissen.
Ich schaffe es endlich, mich von Karls Existenz loszureißen, um mich dann tatsächlich meiner eigenen Arbeit zu widmen. Hier drin mache ich nichts Ernsthaftes, sicher ist sicher. Man sagt zwar, es gäbe keinen sicheren Ort für jegliche Art von Daten als das Rabbit Hole, aber ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen.
Vorsicht ist mein zweiter Vorname. Bevor ich hier auch nur meinen Fingerabdruck zum Entsperren des Bildschirms meines Netbooks nutze, prüfe ich vom Smartphone aus sämtliche Schwachstellen meiner Hardware und mögliche Verbindungslücken, damit auch wirklich nichts passieren kann. Erst dann widme ich mich meinem für hier eingeplanten Tageswerk. Das ist in erster Linie: offizielle Mails checken und nach Wohnungen in einem anderen Stadtteil suchen.
Meine Zeit in der aktuellen Wohnung ist bald schon wieder abgelaufen, ich habe mir selbst ein Limit von sechzig Tagen gesetzt und reize es ungern aus. Die Umzüge sind zwar meist beschwerlich, aber immerhin braucht jeder Mensch die ein oder andere kleine Macke.
Ich stöpsele mir wieder gute Musik in die Ohren und genau in dem Moment, in dem ich dann wirklich mal vollkommen konzentriert bin, blinkt ein Alarm auf. Ein wichtiger Alarm, der mir sagt, dass mit einem der privateren Codes etwas nicht stimmt - das kann nichts Gutes bedeuten. Privat heißt, dass der Rechner zuhause darin involviert ist und das wiederum heißt, dass es um ein Script geht, das von allein weiterläuft wenn ich nicht zuhause bin, was wiederum heißt, dass es eines der größeren Projekte betriff. All das zusammen heißt im Klartext: Kümmere ich mich nicht darum, bin ich zu großer Wahrscheinlichkeit am Arsch!
Aber wie soll ich mich hier drin darum kümmern, wenn ich mir immer noch nur zu neunundneunzig Komma neunneunneun Prozent sicher bin, dass hier niemand zu mir vordringen kann? Ich rücke meine Brille zurecht und warte einige Augenblicke mit angehaltenem Atem.
Ein zweites und ein drittes globales Alarmfeld wird sichtbar und meine Gesichtszüge entgleisen. Brutal knalle ich die Faust auf den Tisch und fluche laut.
So viel zum Thema Pokerface.
Ich habe keine Wahl. Wenn ich mich nicht jetzt um die Sache kümmere, dann habe ich weitaus größere Probleme als die Möglichkeit, dass irgendjemand hier auf meine eigene persönliche Firewall stoßen könnte. An der soll derjenige erst mal vorbeikommen, dann sehen wir weiter. Bisher hat das noch niemand geschafft und wer der erste ist, befindet sich bestimmt nicht in diesem Raum, der langsam um mich herum verschwimmt, als ich entdecke, wo das Problem liegt.
Kein Fehler im Code. Kein technisches Versagen, kein Defekt in irgendeinem Algorithmus. Kein kleines Problemchen, das irgendwann von selbst auftaucht.
Ich habe zu lange gewartet. Jede Millisekunde ist in so einem Fall kostbar und ich habe nichts besseres zu tun gehabt als mir Gedanken über die Kundschaft dieses Salons hier zu machen! Während meine Finger brutal auf die Tastatur einhämmern, wird mir klar, dass ich nichts mehr daran ändern kann. Ich hab's verkackt!
Bevor ich wirklich verstehe, was gerade vor sich geht und wie sehr ich verkackt habe, wird der Bildschirm schwarz und ich starre entgeistert in mein eigenes, sich leicht im ausgeschalteten Display spiegelndes Gesicht. Das Bild, das ich davor noch einige Sekunden lang darauf gesehen habe, hat sich trotz der kurzen Zeit tief in meine Netzhaut eingebrannt. Die Worte, die groß und breit im Eingabefeld standen, hatten sich hingegen in mein Gehirn eingebrannt.
FUKK YOU, ABYSS.
DIZZORDER WAS HERE!
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Sing Me To Sleep [✓]
Science Fiction[ abgeschlossene Geschichte ✓ ] Berlin, 2033. Gar nicht mal so weit entfernt von der heutigen Stadt, einfach nur ein bisschen mehr. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. Die virtuelle Welt ist zum Alltag geworden. Such...