Vielleicht ist die größte Errungenschaft dieser schönen neuen Welt, dass es den ganzen Tag lang nur ein paar Meter vor meiner Haustür entfernt frische Brötchen zu kaufen gibt. Ich habe vergessen, wie tatsächlich frische Backwaren von einer tatsächlich noch Handwerk betreibenden Bäckerei schmecken, deswegen mag ich die Brötchen von "Baked To Go" so gern.
Dieser kleine Backwaren-Discounter direkt um die Ecke ist zwar einer derer, die immer nur schlechte Bewertungen auf Google bekommen, aber ich liebe schon allein den Duft, wenn ich hineinkomme. Man könnte nun anführen, dass es dann vielleicht bei einem Laden, der bessere Bewertungen hat, noch besser duften würde, aber alle, die das behaupten, vergessen einen entscheidenden Punkt: Alle anderen Backshops sind nicht direkt bei mir um die Ecke!
Irgendwie überkommt mich immer ein wohlig-warmes Gefühl, wenn ich bei "BTG" durch die Glastür trete.
Es ist wie ein Stückchen einer mir niemals bewusst gewesenen Heimat, wenn mich das grelle Licht und die schweißtreibende Wärme des kleinen Geschäfts verschlucken. Ich nehme mir ein Tablett, lege ein angeknittertess Papier darauf, stelle mich höflich hinter einem konsequent auf sein Handy starrenden, koreanisch aussehenden Teenager an und hole mit der Zange drei Brötchen aus der Auslage, ehe mich schon von weitem die mir am besten bekannte Aushilfskraft des Geschäfts begrüßt.
Belinda ist so ein bisschen meine heimliche Traumfrau, auch wenn das BTG-Uniform-Poloshirt, auf dem ihr Namensschild befestigt ist, kreisrunde Schweißflecken mit einem Radius von geschätzt fünfzehn Zentimetern unter ihren Achseln aufweist. Das heißt, sie wäre es vielleicht, wenn ich einer anderen Generation angehören würde. Die tiefen Furchen auf ihrem Gesicht erzählen ihre eigene Geschichte, die filigranen Lachfältchen um ihre Augen strahlen wie die Sonne und irgendwie sieht sie gar nicht mal so übel aus mit ihrer kinnlangen, aschgrauen Dauerwelle.
"Willkommen bei Baked To Go", knurrt sie unfreundlich und setzt nicht mal ein gespieltes Lächeln auf, "Wollen Sie eine Tüte?"
"Nein, danke. Nur die Brötchen hier", sage ich grinsend und schnappe mir selbst eine Papierverpackung, die sowieso neben der Kasse zur Selbstbedienung gestapelt sind; ein kurzer Blick noch hinter dem Jungen her, der mit einer ebenfalls nicht ganz vollen Tüte aus der Tür huscht, den Blick immer noch nicht von seinem Display abwendend.
Wahrscheinlich hat er Google Maps an und muss sich nicht einmal umschauen, um zu wissen, wo er lang geht. Die Jugend von heute!
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich Belinda dem lustigen Zusammenhang zwischen ihrer Standardfrage und dem schlechten Denglisch des Geschäftsgründers bewusst ist. Aber am Ende sollte ich sie vielleicht nicht unterschätzen, wer weiß ob sie nicht früher mal Mitglied bei N0PE war oder so.
"Sie bekommen noch was raus!", blafft sie mir hinterher, als ich schon halb aus dem Laden bin.
Ich drehe mich grinsend noch einmal um und laufe rückwärts weiter, um besonders cool zu wirken, "Sehen Sie es als Trinkgeld!" - und schwupps, weg bin ich.
Belinda hat es sicher nicht einfach. Wenn man in einem solch stattlichen Alter noch bei BTG hinter der schlecht gewischten Theke steht, muss man es nötig haben. Vielleicht ist sie doch nicht ganz meine Traumfrau, aber sie ist mir zumindest sehr sympathisch, was ich nicht von allen Mitarbeitern aus Backshops behaupten kann.
Sie ist authentisch - mit Sicherheit will sie nicht freundlich zu jedem dahergelaufenen Kunden sein, darum ist sie es auch nicht. Ganz einfach, und der sprichwörtliche Kittel ist geflickt. Ich trage stolz meine Brötchentüte nach Hause und springe mit neu gewonnener Energie die Treppen nach oben in den sechsten Stock.
Oben angekommen schließe ich nicht mehr energisch, sondern eher keuchend und schnaufend, meine Tür auf und verschwinde ungesehen wieder in meiner Wohnung. Und während ich mir die letzte Tasse Kaffee aus Karls Kanne eingieße und gedankenverlorend auf einem Brötchen herumkaue, wische ich mich auf meinem Netbook durch die letzten vierundzwanzig Stunden meiner Überwachungskamera.
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Sing Me To Sleep [✓]
Science Fiction[ abgeschlossene Geschichte ✓ ] Berlin, 2033. Gar nicht mal so weit entfernt von der heutigen Stadt, einfach nur ein bisschen mehr. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. Die virtuelle Welt ist zum Alltag geworden. Such...