An. Aus. An. Aus. An.
Dann höre ich eine bekannte Stimme von weit, weit weg.
"Du hättest wirklich nicht so grob mit ihm umgehen müssen!"
Eine etwas blechern und unbeholfen artikulierende Frauenstimme sagt: "Er wacht auf!"
Aber ich denke im Traum nicht daran, wirklich wach zu werden. Dafür schmerzt mein Schädel viel zu sehr, alles ist dunkel und ich weiß nicht, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen sind. Ich kann mich nicht bewege und habe keine Ahnung, woran das liegen könnte. Der Boden bebt unter mir. Mir ist schlecht, aber ich schaffe es nicht einmal, mich zu übergeben.
Eine weitere Männerstimme meldet sich zu Wort:
"Ach, der kann das schon ab! Wenn ich schon Rambo für dich spiele, dann wenigstens richtig!"
Ich bin kurz davor, mich zu beschweren, dass diese seltsamen Personen doch bitte ein bisschen leiser sein sollten. Oder wenigstens zu fragen, ob man das Wackeln abstellen könnte, aber ich finde weder meine Stimme, noch bin ich mir zu hundert Prozent sicher, ob ich noch eine Zunge habe.
Und als von noch viel weiterer Entfernung irgendjemand noch irgendetwas zu irgendwem anderen sagt, kann ich es nicht einmal mehr verstehen und die dunkle Welt verschwimmt zu kryptischen Farben und Mustern und als ich wieder wach werde, schrecke ich panisch hoch und bin wieder ganz da.
Anscheinend kann ich mich bewegen. Und während ich das tue, bemerke ich, dass ich auf einem versifften Sofa liege, über mir eine kratzige Filzdecke und neben mir mein Rucksack. Obwohl mir sterbensschlecht und komplett schwindlig ist, raffe ich mich sofort auf, um den Rucksack zu schnappen, mit zittrigen Fingern zu öffnen und zu checken, was alles fehlt.
Erstaunlicherweise liegen alle Sachen, von denen ich noch weiß, sie mitgenommen zu haben, darin. Plus der Sachen, die ich am Körper getragen habe, minus meinem T-Shirt, meiner Hose und meinen Socken, die ich noch am Leib trage. Verwundert stelle ich fest, dass sogar meine Brille wenngleich auch komplett verdreckt und ziemlich verbogen noch auf meiner Nase sitzt.
Ich kann mir keinen Reim aus der Sache machen, aber ehe ich mich überhaupt frage, wo ich bin und was ich hier mache, grabsche ich nach meinem Handy und entsperre es ohne Umschweife. Der Countdown steht noch auf Null im Hintergrund, darüber ist ein kleines Fenster eingeblendet, auf dem ich gefragt werde:
"Try again?"
Dann erst komme ich auf den Gedanken, mich im Raum umzusehen.
Es ist eine ziemlich mickrige Bude, die noch dazu unglaublich lieblos eingerichtet und vollkommen zugemüllt ist. Das ist mir ziemlich egal, denn die Rolläden am Fenster sind noch zur Hälfte geöffnet und draußen geht gerade höhnisch die Sonne auf, als wolle sie mich verspotten.
Nichts in diesem Zimmer gibt mir einen Hinweis darauf, wo ich gelandet sein könnte. Ich bin nur noch immer im Stillen darüber schockiert, wie pfleglich meine Entführer mich scheinbar behandelt haben. Neben mir auf einem Stuhl liegen säuberlich zusammengefaltet mein Pullover und mein Halstuch, darunter stehen stum meine Schuhe und irgendwie leuchtet mir die ganze Sache nicht zu hundert Prozent ein.
Glücklicherweise ist niemand hier, also habe ich genügend Zeit zu bemerken, dass ich nicht verletzt, nicht gefesselt und scheinbar auch nicht tot bin. Es ist einfach nur alles beschissen, weil mich der scheinbar so einfältige Kerl von N0PE bis aufs Mieseste verarscht hat. Ich bin aber auch übergeschnappt.
Wie komme ich überhaupt auf die Idee, dass ein Mitglied dieser doch schon recht etablierten - was ich natürlich nicht wahrhaben möchte - und gut situierten Gruppe sich so einfach schnappen lässt? Warum war nicht der allererste Gedanke bei so viel Leichtsinnigkeit, dass ich derjenige sein könnte, der total motiviert und überschwänglich in eine so fiese Falle springt?
Ich liege zwar nicht verkatert auf meinem Küchenboden, aber es riecht eher nach Schimmel in den Wänden als nach Kaffee und kurz wünschte ich mir, dass ich in der Zeit zurückreisen, den Reset-Knopf drücken und diese vergangene Nacht nochmal von vorn leben könnte, nachdem ich meine Dummheit zu Genüge analysiert habe.
Leider gibt es im echten Leben keinen Reset-Knopf. Nix mit Neustart oder Try again. Schnaubend stoße ich Luft zur Nase aus und lasse mich zurück aufs Polster des Sofas sinken. Ich schließe die Augen und reibe mir meine Schläfen. Was für ein beschissener Tag! Die letzten vierundzwanzig Stunden waren einfach mal für den Mülleimer und ich glaube, ich muss meinen Namen doch ändern lassen.
Jack Bauer ist einfach viel besser als ich.
Mir fällt noch ein, dass ich vielleicht dankbar sein sollte, noch am Leben zu sein. Aber in meiner momentanen Lage ist es recht schwer, noch für irgendetwas Dankbarkeit zu empfinden. Kurz bevor ich gänzlich in meinem Selbstmitleid versinke, höre ich Schritte und bemerke die Holztür an der anderen Seite des Raums.
Ein Schlüssel wird geräuschvoll ins Schloss geschoben, quietschen umgedreht und ich mache mich darauf gefasst, mein blaues Wunder zu erleben. Zumindest ist der Auftritt sicherlich ganz filmreif, immerhin hat mein lustiger Entführer jetzt die perfekte Bühne dafür geschaffen. Also versuche ich, betont gelangweilt zu wirken, um ihn ja nicht zu beflügeln, als die Tür knarrend aufschwingt--
Und mir fällt fast die Kinnlade auf den Boden, so weit klappt mein Mund in purem Schock auf, als könne ich meine Kiefermuskulatur nicht mehr kontrollieren. Unkoordiniert halte ich mich an der Sofalehne fest, als würde ich in meiner Verwunderung ertrinken, aber vor mir steht die Person, mit der ich als allerletztes auf dieser ganzen großen verfluchten Welt gerechnet habe.
"LUKE!"
Mein entrüsteter Schrei wird zu einem erstickten Keuchen.
Der Mann im Türrahmen grinst nur kopfschüttelnd und ich kann es nicht fassen, ich schnappe nach Luft. In seinen Pranken trägt der Hüne ein hellblaues, reichlich gedecktes Frühstückstablett und mit einem Mal weht mir tatsächlich Kaffeeduft um die Nase, aber ich kann nicht mehr tun, als verzweifelt seiner Stimme zu lauschen:
"Du bist zwar nicht mein Vater, aber die Tonlage hast du schon mal ganz gut drauf, Bauer!"
Nur für das längst überfällige Protokoll: Der - zu einem Drittel zumindest - Besitzer des Rabbit Holes, also auch Pattys Bruder und zufällig zu allem Überfluss auch noch mein alter Kumpel Andrzej Krzysztof Łukasiewicz ist nicht nur am Leben und steht leibhaftig nach so langer Funkstille vor mir. Er scheint übrigens noch mein Entführer, ein Mitglied von dem Kasperverein N0PE und ein komplettes Arschloch zu sein!
Wobei ich das letztere schon wusste. Aber am schlimmsten ist der Gedanke, dass ausgerechnet dieses Urgestein der Szene, dieser ehrenwerte und von mir immer immer als bewunderswert eingestufte Bastard sich dieser unbekannten Anzahl von hirnrissen Deppen angeschlossen hat. Ich falle von meinem nicht vorhandenen Glauben ab und zusätzlich noch fast von der Couch.
Das kann und will ich nicht so stehen lassen.
Luke, der Typ mit dem unaussprechlichen Namen. Der Held meiner Jugend, den ich in der Vergangenheit dann endlich habe kennen lernen dürfen, zu meinen Vertrauten gezählt habe. Er war immer so etwas wie das eheste, was jemals einem Vaterersatz hätte nahe kommen können. Denn Luke ist alt genug, dass er sich den Spitznamen "Swordfish" in seiner Anfangszeit als Hacker-Pionier damals noch hat leisten können, ohne dass überhaupt jemand auf den Gedanken gekommen ist, amüsiert die Augen zu verdrehen.
Ein wagemutiger Vorreiter einer neuen Generation, zu der er selbst gar nicht einmal mehr gehört. Ein verdammter Superheld!
Weil er aber mittlerweile nur noch ein abgehalfteter Schatten seiner Selbst ist und dermaßen zum alten Eisen gehört, nennt man ihn heute "ST33L" - was mir allerdings ziemlich Latte ist in diesem Moment, in dem ich mir überlege, dass seine hinterfotzige Verhaltensweisen absolut keinen Stil haben.
Kurz verschwende ich einen Gedanken an Karl, den namenlosen Niemand, der wohl einfach nur als Lukes Schoßhündchen fungiert und bei ihm als Informant stets vor Ort hockt, um die Besten der Besten - wie zum Beispiel mich alias ABYSS - zu rekrutieren für diesen Saftladen von Vereinigung namens N0PE!
"Wir haben einiges zu besprechen!", brummt Luke, während er mir mit einem Augenzwinkern das Tablett reicht, auf dem ich in erster Linie frische Brötchen entdecke.
Oh ja. Davon bin ich überzeugt!
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Sing Me To Sleep [✓]
Science Fiction[ abgeschlossene Geschichte ✓ ] Berlin, 2033. Gar nicht mal so weit entfernt von der heutigen Stadt, einfach nur ein bisschen mehr. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. Die virtuelle Welt ist zum Alltag geworden. Such...