Ich kann nichts mehr hören.
Es rauscht in meinem Ohr, kein alberner Luke mehr, kein flüsternder Karl, auch nicht Patty, keine Verbindung mehr zu unserem Voice-Channel.
Keine Stille. Nichts.
Einfach nur weißes Rauschen.
Vor meinen Augen verschwimmen die Treppen innerhalb des Schulgebäudes, von weit weit weg dringt Lärm in mein Ohr, als würde die Schule gerade ihre Pforten für einen neuen Schultag öffnen. Eine Horde Jugendlicher stürmt durch die Eingangstüren, die Treppen hoch, pöbelnd und lachend, einer reißt mit seiner schweren Schultasche einen anderen zu Boden, als er sie lässig über seine Schulter wirft.
Der große breite Typ grinst hämisch zu dem auf zwei Stufen gerade noch liegenden dünnen Jungen.
"Oh, das tut mir aber leid!" - er klingt nicht, als würde er es ernst meinen.
Obwohl sie mitten auf der Treppe stehen, bildet sich bald ein kleiner Kreis aus den anderen Jungs, währen der Größere immer breiter grinst.
"Na komm, steh auf. Nicht, dass deine Hose noch schmutzig wird! Am Ende ist deine Mama sauer und lässt mich heut Abend gar nicht ran. Das wär eine Schande, findest du nicht?"
Der Dünne rappelt sich auf, tastet orientierungslos die Stufen unter sich ab, aber seine Brille ist bei dem Sturz einige Stufen nach unten gerutscht.
"Suchst du vielleicht das hier, Maulwurf?", klingt die höhnische Stimme und alle anderen Gröhlen vor Lachen.
"Na komm schon, steh jetzt auf, das ist doch lächerlich! Oder soll ich dir aufhelfen, Bauer?"
Betont langsam reicht der große Junge dem noch immer halb blinden Kerl seine Hand. Die Umstehenden halten den Atem an. Irgendjemand reicht dem armen Tropf seine Brille und drückt sie ihm auf die Nase, aber ehe er nach der hilfsbereiten Hand greifen kann, ballt diese sich zur Faust und schlägt ihm abermals die Brille aus dem Gesicht.
Wie in Zeitlupe sehe ich die Brille durch die Luft fliegen, mir ist schwindlig, alles dreht sich, ich spüre den Matsch und das Gras vom Pausenhof unter mir. Die Brille fliegt und fliegt, die Treppen nach unten, segelt durch die Lüfte und mir ist sterbenselend, alles kribbelt, kalter Schweiß klebt meinen Pullover an meinen Rücken, ich schmecke Blut auf meiner Zunge und dann knallt die Brille auf die harten Fliesen und zerspringt, tausend kleine Scherben bersten in alle Himmelsrichtungen.
Mit dem Klirren der Brillengläser reiße ich die Augen auf und klammere mich wie ein Ertrinkender an den Arm, der mich unsanft gepackt hat.
Heute nicht. Nein, diesmal wehre ich mich. Versuche ich zumindest, aber dank nicht vorhandener Koordination kippe ich nur seitwärts zurück ins Gras und reiße den Angreifer mit seinem Arm um meinen Hals mit mir nieder. Bis ich bemerke, dass er mich weder würgen noch quetschen will, sondern eigentlich nur etwas unbeholfen um meine Schultern liegt.
Zu spät. Mein Netbook hängt noch brav am Netz, das Eingabefeld ist verschwunden und als ich es schaffe, den Blick woanders hin zu wenden, starre ich in Karls leichenblasses und besorgtes Gesicht. Halt. Moment. Noch mal von vorn.
Karl und ich liegen eng umschlungen auf dem matschigen Gras auf meinem ehemaligen Schulhof und das soll kein dummer Witz sein?
"Geht es?", flüstert Karl und schaut mich fragend an.
"Die Nachricht!", entfährt es mir mit heiserer Stimme.
Karl schüttelt den Kopf, "Ich habe selbst etwas gesendet. Mach dir keine Gedanken. Wir sind noch gut in der Zeit, aber das ist irrelevant."
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Sing Me To Sleep [✓]
Science Fiction[ abgeschlossene Geschichte ✓ ] Berlin, 2033. Gar nicht mal so weit entfernt von der heutigen Stadt, einfach nur ein bisschen mehr. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. Die virtuelle Welt ist zum Alltag geworden. Such...