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Die Kapuze meines Pullovers tief ins Gesicht gezogen und das Halstuch fast bis zur Nase hochgeschoben verlasse ich meinen Wohnblock.

In meiner Tasche nur mein Smartphone, in meinem Rucksack nichts weiter als eine halbleere Flasche Pepsi light, das letzte Brötchen, mein altbekanntes Netbook samt Ladezubehör und noch eine kleine technische Spielerei, auf die ich bei dieser Mission nicht verzichten wollte:

Vor ein paar Monaten habe ich mir eine billige Drohne bestellt und in schweißtreibender Arbeit mehrere Wochen lang umgebaut, sodass sie meinen Ansprüchen genügt, für meine Zwecke geeignet ist und meine kühnsten Vorhaben in die Tat umsetzen kann. Ich habe sie in einem Anflug von geistiger Umnachtung - oder doch eher Sentimentalität? - auf den Namen "Sarah" getauft, aber fragt mich nicht, wieso. Vielleicht hänge ich immer noch an meiner Ex, auch wenn die Sache schon mindestens seit fünf Jahren komplett der Vergangenheit angehört.

Um von diesen pikanten Details, die niemanden etwas angehen, abzulenken, bleibt mir noch für alle, die noch nicht eingeschlafen sind, die letzte Komponente meines Outfits zu erwähnen:

An meinem Gürtel habe ich, nicht sichtbar unter meinem T-Shirt und dem schlabbrigen Pullover, eine altmodische aber nichts desto trotz ziemlich furchteinflößende Walther P99 befestigt. Nur für alle Fälle und auch nur, um meinem Image alle Ehre zu machen. Immerhin bin ich Terrorist, ich muss manche Standards schon wahren, um glaubhaft zu bleiben.

Als ich frohen Mutes und überhaupt nicht zwielichtig aussehend am BTG vorbeimarschiere und noch einen Blick auf die leckeren Brötchen in der Auslage werfe, rempelt mich noch eine hastig vorbeilaufende, schmale Gestalt an. Und auch nur, weil ich mir fast in die Hose geschissen hätte vor Schreck, starre ich dieser Person noch ungläubig hinterher, als sie im Laufschritt um die nächste Ecke biegt.

Scheinbar gibt es noch krassere Kriminelle als mich um diese Uhrzeit an diesem Ort. Ich sollte aufpassen, dass ich nicht fälschlicherweise als Mörder aufgegriffen werde, weil ich nun hier stehe und vermutlich dunklere Haut habe als der Typ, der an mir vorbeigerannt ist.

Ich nehme die Abkürzung über einige Seitengassen und halte mir schnaufend die Seite, nachdem ich über eine nicht wirklich hohe Mauer in einem Hinterhof geklettert bin. Das mit dem Parkour muss ich vielleicht noch besser trainieren! Tatsächlich bin ich vielleicht der unsportlichste Mensch in meiner BMI-Klasse, aber wer interessiert sich für solche Dinge schon? Ich muss weiter.

Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass ich schon neuneinhalb wertvolle Minuten vergeudet habe und mich sputen muss, um rechtzeitig zum großen Knall als Wow-Effekt bei meinem kleine N0PE-Kumpel in der Bude zu stehen. Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, in welchem Stock er wohnt und ob ich das überhaupt durchziehen kann mit meinen nicht vorhandenen akrobatischen Fähigkeiten, aber die Hoffnung stirbt zuletzt und zur Not habe ich ja noch Sarah.

Die nächsten knapp fünfzehn Minuten vergehen ohne weitere Vorkommnisse. Für's Protokoll sind lediglich drei Autos und ein Ziehharmonikabus an mir vorbeigerauscht, selbst die Straßen dieser Stadt sind gegen vier Uhr morgens relativ leer - zumindest in dem Teil, in dem ich mich zur Zeit aufhalte. Meine Route führt allerdings in die weniger angenehmen Stadtteile und fröstelnd kommt mir der Gedanke, dass ich mich hätte wärmer anziehen sollen.

Ich brauche einen Soundtrack für diese epische Mission und anstatt zu pfeifen, stöpsle ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und stelle die Titelmusik von Indiana Jones in Endlosschleife an. Irgendein Laster braucht der Mensch ja bekanntlich und für mich sind es eindeutig alte Klassiker der populären Kultur! Unter anderem, aber ich schweife wieder ab und checke noch einmal meinen Countdown.

Fast bin ich da, wie mir mein selbst erstelltes und mehrfach streng gesichertes Navigationssystem mitteilt. Mir bleiben noch ungefähr sechs Minuten, um die genauen Koordinaten zu finden und die richtige Höhe zu finden, aber Hochhäuser sind in dieser Gegend glücklicherweise eher selten. Ich schalte schweren Herzens den Soundtrack ab und bereite mich in Windeseile vor. Gutes Timing gehörte nie zu meinen Stärken.

Erst als ich einsatzbereit bin und wieder wertvolle Sekunden verstrichen sind, komme ich auf die Idee, mich auch in der analogen Welt genauer umzusehen. Neben einem McDonald's, der eindeutig noch geöffnet hat, sticht mir ein großes Werbedisplay ins Auge, auf dem gerade ein Spot für die Sicherheitspolitik läuft.

Fokus! Ich kann mir keine Ablenkung mehr leisten. Aber während ich noch einmal meine Koordinaten überprüfe und die Zeit unaufhörlich weitertickt, habe ich plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Langsam und bedacht lasse ich den Rucksack von meinen Schultern gleiten, um den Reißverschluss zu öffnen und Sarah noch in der Tasche drin in die Hand zu nehmen.

Es müssten mittlerweile nur noch ein paar hundert Meter sein, vielleicht über die große Kreuzung, deren Ampel orange blinkt. Die digitale Reklame flackert und blendet das Gesicht von unserem Bundespräsidenten ein.

Darunter steht irgendein schmieriges Slogan, auf den ich nicht achte, weil der Kerl schmierig genug ist. Und während ich Sarah mit meinem Smartphone verbinde, dabei feststelle, dass bei McDoof noch einiges los zu sein scheint und ich mitnichten unbeobachtet bin, gleitet mein Blick noch einmal in die Richtung meiner festgelegten Koordinaten.

Kurz bevor mein Countdown nur noch eine Minute anzeigt, lese ich die pinkfarbene Leuchtreklame auf dem Gebäude auf der anderen Straßenseite.

"NETZWERK - dein Internetcafé"

Und während ich hysterisch nach Luft schnappe, dabei Sarah wieder in die Tasche gleiten lasse und die Träger des Rucksacks fest umklammere, fällt mir fast mein Handy aus der Hand. An meinem Gürtel noch die gesicherte und ungeladene Walther, mein Puls rast wie wild.

Wieso bin ich eigentlich so?

Ich bin so dumm. So unfassbar dumm.

Was für eine beschissene Aktion ist das überhaupt?

Wieso muss ich immer jeden blöden Gedanken sofort in die Tat umsetzen, ohne alles genau durchzuplanen und mir über eventuelle Komplikationen und Konsequenzen im Klaren zu werden?

Ich hab zwar echt coole Ideen, aber manche sind ein bisschen über den Zaun gebrochen. Verdammte Kacke!

Wie kann ich so unbedacht und naiv sein und direkt in diese beschissene Falle tappen?!

Aber das ist nicht der Zeitpunkt für Grundsatzdiskussionen mit mir selbst.

In den letzten zehn Sekunden habe ich noch genügend Zeit, mich unfassbar panisch zu fühlen, mein Handy zu sperren und den Reißverschluss vom Rucksack zu schleißen. Dabei fällt mein Blick auf das nun leuchtend grüne Werbedisplay, von dem aus mich höhnisch eine verpixelte Ratte anglotzt.

Und als mein Countdown sicherlich schon zuende ist, will ich einfach nur hier weg.

Allerdings hätte ich mir das früher überlegen sollen.

Ich höre nicht einmal Schritte, keine Alarmsirenen, nichts. Es geht einfach nur ein dumpfer Ruck durch meinen Körper, ich fühle einen unsanften Schlag in meinen Magen und mir entweicht sämtliche Luft aus den Lungen. Ich spüre ein Gewicht in meinem Rücken, vor meinen Augen wird es schwarz, aber ich schlage noch um mich ins Leere.

Am Gürtel hängt schwer die Waffe, aber ich schaffe es nicht einmal, nach ihr zu fassen. Als ich gegen irgendetwas Weiches trete, verliere ich das Gleichgewicht, kann mich blind und taub gerade noch fangen, aber komme nicht von der Stelle. Panisch will ich nach Luft schnappen, weil es um meinen Hals echt eng wird, aber neben dem feuchten Lappen nehme ich nur noch einen stechenden Geruch wahr, dann ist erst mal Schicht im Schacht und mein Bewusstsein verabschiedet sich auf ungewisse Zeit.

"Scheiße!"

Das ist der letzte in meinem Kopf noch irgendwie präsente Gedanke, ehe ich keine ausreichende Gelegenheit mehr dazu habe, noch bessere Schimpfwörter zu finden. Ich schaffe es nicht einmal mehr, mich selbst zu verfluchen, dann gehen die Lichter aus.

Aus.

Sing Me To Sleep [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt