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Obwohl es keinerlei für mich sichtbare Spuren hinterlassen hat, finde ich das kleine Mistvieh tatsächlich recht schnell wieder. 

Eigentlich muss ich dafür nur den einzigen Geräuschen in der mucksmäuschenstillen Umgebung lauschen und das Klackern der Tastatur wird lauter, als ich dem zuvor schon bekannten Überwachungsraum näher komme. Die Tür ist nur angelehnt, nur flackerndes LED-Licht dringt durch den Spalt und ich bleibe stehen, um noch einmal tief durchzuatmen.

Eigentlich wollte ich ja wutentbrannt hineinstürmen und Karl zur Rede stellen, aber so werfe ich nur leise einen kleinen Spalt durch die Tür und genieße ein bisschen die Stille, die nur durch Karls Finger auf den Tasten unterbrochen wird, ein stetiger, beruhigender Rhythmus, der mich an schöne alte Zeiten erinnert.

Halb auf seiner Schulter, fast in der Kapuze seines Pullis drin, sitzt die kleine Ratte und hat den nackten Schwanz fast schon liebevoll anmutend um seinen Hals geschlungen, während sie am Haaransatz in seinem Nacken zu schnuppern scheint. Ich muss lächeln, als sie den Kopf dreht, den Eindringling entdeckt und mich vorwurfsvoll anblickt. Glücklicherweise kann sie nicht sprechen, deswegen traue ich mich doch noch, leise anzuklopfen, ernte aber keinerlei Reaktion.

Ich beobachte die Codes auf dem großen Hauptbildschirm, betrachte die Bilder der Kameras drumherum und komme auf eine seltsame Art und Weise mehr zur Ruhe, als wenn ich schlafen würde. Mit leisen Schritten schleiche ich mich ins Zimmer, Karl tippt noch immer und scheint sich nicht für das Klopfen zu interessieren.

Oder hat er es nicht gehört?

Anscheinend ist es für ihn trotzdem ok, denn als ich fast schon neben ihm stehe und mich kurz räuspere, wirft er mir nur einen kurzen Blick zu, seine Lippen zucken zu einem Lächeln und er schreibt im selben beständigen Rhythmus weiter an seinem Script. Ich werde nicht besonders schlau aus dem, was er da macht, aber ich habe mich vielleicht mittlerweile mit dem Gedanken abgefunden, dass Karl es einfach drauf hat.

Warum ich auf einmal so ausgeglichen bin, kann ich gar nicht sagen, aber als Karl schließlich die Entertaste drückt und sich entspannt zurücklehnt, lausche ich nur seinem Atem und dem leisen, zufriedenen Knuspern seiner Ratte.

"Ich will dein Geld nicht", sage ich.

Es ist kein Vorwurf, sondern nur eine ruhige Feststellung, als würden wir über das Wetter reden.

Statt es ihm wütend auf den Tisch zu knallen, behalte ich das Bündel aus großen Scheinen direkt vor Karls Nase gestreckt in der Hand, bis er es mit einem undurchsichtigen Blick zurücknimmt und wieder in seine Hosentasche quetscht.

"Du kannst mich nicht kaufen, ich war noch nie ein Teil dieses Systems mit der korrupten Gesellschaft", sage ich weiterhin ganz beiläufig und zucke grinsend mit den Schultern, "Da müsst ihr euch schon was Besseres einfallen lassen. Du und dein kleiner Freund hier!"

Karl muss scheinbar gegen seinen Willen schmunzeln, aber er stellt nicht einmal die Frage, was ich hier zu suchen habe. Er steht einfach nur auf, tritt von einem Bein auf das andere, während er die Ratte vorsichtig aus seiner Kapuze befreit und sie es sich in seiner Hand bequem macht.

"Freundin", sagt er nur und lächelt sanft, "Das ist Alina. Sie ist zwar ein bisschen frech, aber eigentlich hat sie ganz gute Manieren."

Ich grinse bis über beide Ohren, strecke meine Hand langsam der von Karl entgegen und lasse Alina meinen Pulloverärmel nach oben klettern. Neugierig beschnuppert sie mein Ohrläppchen, als sie auf meiner Schulter angekommen ist.

"Ey!", beschwere ich mich, als sie nicht schmerzhaft, aber doch etwas erschreckend daran zu knabbern beginnt und schnappe sie mir, um sie wieder Karl in die Hand zu drücken, der ebenfalls grinsen muss.

"Fremden gegenüber ist sie immer etwas skeptisch. Aber ich glaube, sie mag dich!", sagt Karl und streichelt ihr über das Köpfchen, was sich Alina mit einem wohligen Knuspern gefallen lässt, ehe sie sich geschickt in die vordere Öffnung des Ärmels zwängt und es sich im Inneren des Pullovers in seiner Armbeuge bequem macht.

Kurz herrscht Schweigen, dann entfernt sich Karl einige Schritte von mir in Richtung Tür:

"Komm mit, ich möchte dir was zeigen."

In meiner momentanen Verfassung zucke ich nur mit den Schultern und folge Karl mit einem schiefen Grinsen durch die Tür und einige nachfolgende Gänge bis zum Aufzug. Als wir einige Stockwerke nach oben fahren, lehnen wir beide an einer anderen der gegenüberliegenden Wände. Ich schaue Karl an, er weicht meinem Blick aus und sieht auf den Boden.

Wo auch immer Karl mich hinbringen will, aber ich vertraue ihm komischerweise. So sehr, dass ich erst bei dem leisen "Pling!" bevor sich die Tür öffnet, überhaupt auf der Anzeigetafel nachschaue wo wir uns befinden könnten und bemerke, dass wir ganz nach oben gefahren sind. Was auch immer Karl vor hat, ich werde mich wohl oder übel drauf einlassen.

Nicht nur, dass ich keine andere Wahl habe - irgendetwas sagt mir, dass er mir nichts Böses will.

Karl knipst das Licht an und wir laufen durch weitere kahle Gänge, bei denen sich niemand die Mühe gemacht hat, auch nur den abgebröckelten Putz ein bisschen zu kaschieren. Meine Schritte knirschen auf dem Boden und dann gehen wir einige Treppen nach oben. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber als Karl die nächste Tür öffnet, bin ich vollkommen überwältigt.

Ich kann mit Fug und Recht behaupten, schon viel in meinem Leben gesehen zu haben.

Aber das?

Das ist der absolute Wahnsinn und fast wird mir schwindlig, als ich mit Karl auf das Dach des Hochhauses trete, auf dem wir aus unauffindlichen Gründen gerade stehen. Ich kann es mir nur so erklären, dass dieses Haus ein unterirdisches System aus Gängen beherbergt, unter denen sich Karl einige ausgesucht hat, die er begehen kann.

Es ist mir ehrlich gesagt auch ziemlich egal, wo und wie und was - es ist atemberaubend.

Wir sind so weit oben, dass man fast die ganze Stadt sieht. Scheiße Mann, wir sind so weit oben, dass man trotz des Smogs über den Dächern unzählige und Abertausende von Sternen sehen kann!

Ich hab mich nie für so Sachen wie Sterne interessiert, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht mal in meiner Jugend für den Kosmos und das Universum, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, extra auf das Dach eines Wolkenkratzers zu steigen, um mir den Sternenhimmel anzuschauen.

Schade eigentlich.

Es ist nämlich überwältigend.

Vielleicht ja nur, weil ich nicht damit gerechnet habe, vielleicht aber auch, weil Karl wie komplett ausgewechselt scheint. So als wäre man hier oben nicht in der Realität, sondern in einer ganz neuen Welt. Das ist gequirlte Scheiße, immerhin kann ich von hier aus die gesamte Realität überblicken, aber vielleicht wird man ja automatisch poetisch, wenn man nachts bei klarem Himmel auf einem Dach steht.

Karl, dessen Augen zu leuchten begonnen haben, streift mit seinem Blick nur kurz mein Gesicht und ich folge ihm ohne jegliche Fragen weiter über das ausgebaute Flachdach bis hin zu der kleinen Mauer, die scheinbar davor schützen soll, in die Tiefe zu stürzen.

Unter uns die wieder stärker befahrenen Straßen, aber die Autos sind nur vorbeihuschende weiße und rote Punkte, je nachdem in welche Richtung sie fahren. Die Werbedisplays sind so weit unten, es scheint fast so, als würden wir so gut wie alle Häuser in der Nähe überragen. Aber ich wende den Blick von der Stadt und tue es Karl gleich, der den Kopf in den Nacken gelegt hat und mit ausgebreiteten Armen in den Himmel schaut.

Es ist, als könne man von hier die gesamte Galaxie betrachten. Das ist Schwachsinn, aber der Himmel ist nicht nur schwarz mit lausigen weißen Punkten drauf - es sind verschiedene Schattierungen über Dunkelblau, fast bis ins Türkisgrüne, die Sterne funkeln und zwinkern uns zu. Und nein, ich habe keine Drogen genommen; es ist ausgeschlossen, dass wir uns in einem geschlossenen Raum befinden und der Mist auf eine riesige Leinwand projiziert wird.

Und selbst wenn-- scheiß drauf.

Es ist wunderschön.

Sing Me To Sleep [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt