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Das Bündel Geldscheine in meiner Hand fühlt sich zentnerschwer an auf meinem Weg in das kleine, liebevoll eingerichtete Zimmer. Ich knalle es achtlos auf den hell lackierten Holztisch und checke noch kurz ab, dass ich hier sogar ein eigenes Badezimmer habe, bevor ich mich seufzend aufs große, gemütliche Bett werfe und mir beide Hände vor die Augen schlage.

Darf doch alles nicht wahr sein, was für eine Scheiße hier!

Karl tut mir leid. Und Luke tut mir leid. Sogar Patty und die doofe LOTTE tun mir leid und am allermeisten tue ich mir selbst leid, während ich mich auf die Seite rolle und gegen die zartgelb gestrichene Tapete starre. Karl hat es doch nur gut gemeint. Wie Luke mit drin hängt, weiß ich noch nicht, aber vielleicht habe ich auch keine Chance, es herauszufinden.

Patty ist hoffentlich im Rabbit Hole in Sicherheit mit den anderen beiden Dritteln des Besitzertrios und LOTTE ist eh ne KI, der kann so schnell nichts passieren, wenn Luke ein Backup hat. Aber Karl und ich? Wir sind am Arsch. DIZZORDER wird spätestens dann, wenn er bemerkt hat, dass ich seine Backdoor überbrückt habe, Interesse an meinen Daten bekommen.

Und es wird nicht schwer für ihn sein, herauszufinden, dass ich auf Abwehr gegangen bin. Er wird eins und eins zusammenzählen können und Karl wird üble Probleme bekommen. Ich kann nicht mehr nach Hause zurück und Karl ist quasi hier drin bei sich zuhause eingeschlossen. Was für eine Ironie.

Statt dass wir uns einfach in unserer miesen Lage zusammenraufen, sprechen wir nicht miteinander, gehen uns aus dem Weg und Karl hält es für besser, mich zu schmieren oder mir ein Schweigegeld zuzustecken, als mich in seine Pläne einzuweihen. Vielleicht ist es dafür zu spät, vielleicht macht er es morgen, wenn ich ihm sage, wie ich mich entschieden habe.

Bevor ich ihm das sage, sollte ich mir allerdings selbst mal darüber im Klaren sein.

Klar, ich hab ihm keine große Wahl gelassen. Vielleicht bin ich manchmal wirklich zu aufbrausend. Vielleicht verhalte ich mich tatsächlich ein bisschen beschissen kindisch dafür, dass ich mit meinem Namen in der Szene mehr Verantwortung trage, als mir lieb ist. Immerhin bin ich nicht nur ein Hacker, der irgendwelche lustigen Tricks kann, sondern in die Öffentlichkeit gegangen.

Ich erinnere mich an die erste große Sache, nicht vergleichbar mit der Scheiße in der Schule. Da hab ich einige von diesen riesigen Werbedisplays gehackt und in regelmäßigen Abständen zu bestimmten Stoßzeiten des Feierabendverkehrs meine freiheitsliebenden Botschaften abgespielt, um eine Plattform zu haben, auf der die Leute sehen können, was ABYSS zu sagen hat.

Die Rückmeldungen waren eine Wucht, die sämtliche Social Media Seiten überrollt hat, wie ich mir habe sagen lassen. Es gab wochenlang kein anderes Gesprächsthema, manche Leute standen den ganzen Tag an diesen Werbetafeln, warteten auf meine Videos, um sie mit den Handykameras zu filmen. Solange, bis die Polizeit sie aufgegabelt hat, weil sie an öffentlichen Plätzen herumlungerten - ob die wohl ernsthaften Ärger bekommen haben?

Zu dem Zeitpunkt war es mir egal gewesen. Ich war berühmt. ABYSS war ein Name und schnell kam ich in die Szene, spielte plötzlich bei den ganze Großen mit und es beflügelte mich. In goldenen Zeiten gab es wohl keinen Hacker, nicht ein einziges überengagiertes Script Kid, das ich nicht gekannt habe - zumindest vom Namen her. Und als ich es geschafft habe, mich als Ratte noch ins Rabbit Hole zu schleusen, lernte ich Luke und Patty kennen, die ihrerseits zu meinen Anfängen in der volle Blüte ihres Geschäfts standen.

Ich stöhne schwer und vergrabe das Gesicht im flauschigen Kissen. Geht es mir jetzt so wie Luke? Bin ich im Begriff, meinen Zenit zu überschreiten? Oder habe ich das sogar längst und mich nur dagegen gewehrt, es mir einzugestehen? Ist das hier nicht nur das Ende von N0PE, sondern auch das Ende von ABYSS?

Heute ist es allerdings zu spät, um das noch herauszufinden.

Jetzt, wo ich langsam zur Ruhe komme und kurz davor bin, in meinem Selbstmitleid zu versinken, stellen sich mir noch einige Fragen. Weniger möchte ich Karl Vorwürfe machen oder ihn mit irgendetwas Unangenehmen konfrontieren. Eigentlich gar nicht. Eigentlich will ich nur die Antworten auf die Fragen wissen, mehr nicht.

Ich kicke die Schuhe von meinen Füßen und mache mir weder die Mühe mit den Socken noch mit der Jeans. Ich dimme den Lichtschalter an der Wand neben dem Nachtschrank, ziehe die fluffige Zudecke über meinen noch fast komplett angezogenen Körper und schließe die Augen.

Die Brille auf das Nachttischchen, wieder Augen zu. Kratze mich an der Nase, Augen zu. Drehe mich auf die andere Seite, schließe meine Augen und frage mich, wieso sie immer wieder aufklappen, als wäre ich eine von diesen gruseligen Puppen und man würde mich aufrecht hinstellen. Fest steht allerdings: So kann ich nicht schlafen. Egal wie müde ich bin, egal wie meine Glieder allesamt schmerzen, ich finde so keine Ruhe.

Also seufze ich genervt, setze meine Brille wieder auf und rolle mich aus dem Bett, um mich im Badezimmer umzusehen. Eine kleine Eckdusche, eine Toilette, ein sauberes Waschbecken, sogar Handtücher und Seife - anscheinend hat Karl damit gerechnet, Besuch zu bekommen. Oder sieht es hier immer so aus, falls plötzlich irgendjemand aufschlägt? Wieso eigentlich dieses riesige Gebäude für nur eine einzige Person?

Und was zur Hölle ist das für ein Geräusch? Mir fährt es eiskalt über den Rücken, als ich es höre. Ein Kratzen, wie als ob es aus der Wand kommt. Kleine kurze trappelnde Schritte von winzigen aber zahlreichen Füßchen. Und dann ein Knabbern und Knuspern, als würde ein winzig kleiner Jemand winzig kleine Chips kauen und mir keine davon abgeben.

Panisch blicke ich mich um und sehe-- nichts, außer Fliesen und Handtüchern und ich trete wieder ins Zimmer. Der Teppich fühlt sich weich unter meinen Socken an, trappelnde Schritte, ein Klappern, aber ich sehe einfach nichts. Erst als ich mich schon für verrückt erkläre und mich kopfschüttelnd auf's Bett setze, um zu überlegen, ob ich mich einweisen lassen sollte, erhasche ich eine kurze Bewegung aus dem Augenwinkel.

Meine Reflexe sind ziemlich gut dafür, dass ich ein extrem unsportlicher Mensch bin. Ein beherzter Hechtsprung ganz spontan in die ungewisse Richtung und ich komme unsanft mit lautem Poltern auf dem Boden auf. Es fühlt sich an, als hätte ich nicht nur ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, sondern als wäre auch meine Wirbelsäule in mindestens acht Teile gesplittert, aber so schlimm ist es scheinbar doch nicht, denn ich kann mich wieder aufrappeln und triumphieren, dass ich irgendein semi-flauschiges Etwas in den Händen halte.

Ich rechne mit einer ziemlich großen, genmanipulierten Labor-Maus, aber als mich das Vieh frech in den Daumen beißt, als wäre ich eine besonders köstliche Leckerei - oder einfach ein viel zu ungehobelter Rüpel - sehe ich noch den nackten Schwanz einer schwarzweiß gemusterten Farbratte hinter mein Bett huschen.

Fluchend stehe ich auf und schleiche mich ans Bettgestell. Lautlos werfe ich einen Blick über die Matratze und das kleine, wuselige Ding glotzt mich kurz aus großen, schwarzen und ziemlich weit aus dem schmalen Köpfchen hervorstehenden Augen an, bevor es weiter trappelt bis zur Tür. Die ist immer noch zu, aber ehe ich Pläne schmieden kann, wie ich das Tierchen wieder loswerde, muss ich tatenlos zusehen, wie sich die Ratte durch den so klein aussehenden Spalt unter der Tür zwängt und dann sehe ich nur noch die Schwanzspitze.

Verdattert setze ich mich wieder auf's Bett und zucke mit den Schultern. Vielleicht ist das hier echt nur ein besonders schön eingerichteter Keller. Ich will mich nach diesem Schock wieder hinlegen, aber als meine Augen tatsächlich mal zu bleiben, kommt mir ein Gedanke.

Das Vieh, das ich gerade getroffen habe, war keine gewöhnliche Kanalratte, sondern eine klein gezüchtete, hübscher anzusehendere und mit Sicherheit domestizierte Farbratte, die normalerweise für Laborzwecke genutzt oder - und ich springe quasi aus dem Bett auf - als zahmes Haustier gehalten wird! Dass ich unter dem Namen "Ratte" bekannt bin, ist ein dummer Zufall. Aber das in den N0PE-Videos immer eine Ratte zu sehen ist und jetzt hier auch noch so ein Tierchen frei herumrennt, das kann schon kein Zufall mehr sein. Riecht eher ein bisschen nach einer Sache, der ich auf den Grund gehen muss.

Als ich auf dem Weg zur Tür am Tisch vorbeistreife, fällt mein Blick wieder auf das Geld. Ich beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe, dann fasse ich einen Entschluss.

Sing Me To Sleep [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt