1. Kapitel

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Die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der Wasserfläche, als sie die schnell herankommenden Boote am Horizont erblickten. Ihre Segel waren von wappenartigen Färbungen geprägt und an ihrem Buk prangten die aus Holz geschnittenen Köpfe verschiedenster Kreaturen, die Magery nie zuvor gesehen hatte. Fröstelnd zog sie sich ihren Mantel enger um die Schultern und trat vom Fenster weg. Wie fast jeden Tag hatte sie es von einer ihrer Kammerdienerinnen öffnen lassen, um vom Duft der Heide und dem Geschrei der am Himnel kreisenden Möwen geweckt zu werden. Doch heute war nicht wie jeder Tag. Anstelle des leicht herb salzigen Geruches rissen sie die alles übertönenden Turmglocken der Kirche aus dem Schlaf. Der sonst so liebevoll bereit gestellte Waschkrug auf ihrem Nachtisch war umgeworfen, wodurch sich der gesamte Inhalt auf dem Boden geleert hatte. Auch ihre Kleider waren aus dem Schrank gerissen und auf dem sonst so penibel reinlich gehaltenen Boden verstreut worden. Einige der Gewänder hatten es in die mitten im Raum stehende Truhe geschafft, die restlichen hingegen lagen wahllos verstreut. Der Grund für diese Verwüstung war ihre Mutter gewesen. Die Gräfin hatte unmittelbar nach dem Erklingen der Alarmglocken den Befehl zum packen gegeben. Doch ihr Vater, Feit von Arrington, hatte diese Tätigkeit unterbunden.
"Die Befestigungsanlage ist unser einziger Schutz. Wenn wir die Burg verlassen, sind wir Ihnen ausgeliefert.", hatte er mit einer entschlossenen Stimme gesagt, wobei er beide Hände seiner Gemalin mit seinen umschloss und ihr einen Kuss auf den Handrücken drückte. Doch diese beruhigende Geste hatte keinerlei Wirkung auf die Gräfin. Zu viele Schreckensbotschaften hatten ihre Grafschaft in Devon schon erreicht. Die Wikinger waren ein Barbarenvolk von den Nordinseln. Einzig angetrieben durch ihren Blutdurst und von der Lust am morden. Wo auch immer die Drachenköpfe am Horizont auftauchten, folgte bald Tod, Elend und Verderben.
Leichtfüßig schlüpfte Magery aus der Tür ihrer Gemächer heraus. Schnell durchquerte sie den mit Wandteppichen behängten Flur und trat auf den Burghof hinaus. Ähnlich wie in ihrer Kemenate herrschte auch hier ein heilloses Durcheinander. Soldaten mit dem Banner ihres Vaters trugen Pfähle und andere schwere Gegenstände zum Tor, um eine Verbarrikadierung vorzubereiten. Doch wenn man in ihre ausgemergelten Gesichter blickte, erkannte man schnell, dass sie nur die für untauglich erklärten Männer waren, welche aufgrund ihres Alters oder ihrer Krankheiten nicht mit in das Heer des Königs konnten. Denn König Egbert hatte zwei Monde zuvor alle kampftauglichen Männer in seine Armee einberufen, um einen privaten Krieg zwischen ihm und Mercia zu führen. So waren die Dörfer und Grafschaften nur noch von Kindern und Frauen besetzt, die sich als leichte Beute für die Wikinger erweisen sollte.
"Los Männer! Wir brauchen mehr Baumstämme! Hop Hop im Eilschritt!"
Magerys Augen folgten dem harschen Klang der Stimme. Sie gehörte zu dem Oberbefehlshaber Connor Mightwood, der die Truppen ihres Vaters befehligte. Seitdem die Invasoren am frühen Morgen gesichtet worden waren, hatte er die Vorbereitungen zur Verteidigung der Burg übernommen. Er stand oberhalb der Mauer auf dem hölzernen Anbau und brüllte verschiedenste Befehle in das unter ihm herrschende Chaos. Denn zwischen den umhereilenden Soldaten tümmelten sich nun auch immer mehr Bauern und Bewohner der umliegenden Dörfer. Auf der Suche nach Schutz vor den Plünderern waren sie in einem ganzen Strom zur Festung gezogen. Um ihre Existenz nicht völlig zu verlieren hatten sie alles was sie an ihrem Besitz tragen konnten mitgenommen. Ganze Wagen voll von Getreide und Wolle standen unkoordiniert im Innenhof und machten es den Soldaten schwer den Platz ungehindert zu durchqueren. Mehrere Schweine und Scharfe hatten sich von ihren Stricken gelöst und rannten nun orientierungslos blökend durch die Menge. Durch
eine böse Vorahnung löste die junge Grafentochter ihren Blick von der Masse und ließ ihn höher schweifen. Vorbei an den zwei Verteidigungstürmen und den Zinnen der Burgmauer bis ihre minzgrünen Augen den Himmel erreicht hatten. Denn schwarzer Rauch verdunkelte den Horizont, wo die ersten Höfe in der Ferne brannte.
"Magery!" Die von Sorgen durchtränkte Stimme ihrer Mutte riss sie aus ihren Gedanken. Anders als sonst waren die braunen Locken der Gräfin nicht in einen sorgfältigen Zopf geflochten, sondern wehten ihr wild um die Schultern. Weder Schmuck noch Ohrringe zierten die sonst so eitle Frau. Denn wie ganz Wessex traf auch sie die Ankunft der Wikinger unvorbereitet.
"Komm mit mein Engel. Du bist hier nicht sicher. Niemand weiß wie viel Zeit uns noch bleibt bis die Barbaren hier eintreffen." Ihre Mutter nickte mit dem Kopf in Richtung Stallungen und bedeutete ihr mitzukommen.

"Du wirst dich verstecken und keinen Ton von dir geben, bis ich dich holen komme"
Nun überquerten sie den Burghof. Magery hatte Probleme mit ihrer vorauseilenden Mutter Schritt zu halten.
"Egal was du hörst, egal wer nach dir ruft, du bleibst in deinem Versteck."

Das junge Mädchen wich einem panisch flatternden Huhn aus. "Mutter wer sind diese Männer? Stimmt es, dass Satan selbst sie geschickt hat?" Leichtfüßig schlüpfte sie hinter der Gräfin durch die Stalltür. Ein angenehmer Geruch von Heu und Pferden schlug ihnen entgegen. Die Säume ihrer Kleider wirbelten dünne Strohhalme auf, während sie die Stallgasse entlang hetzten. Als sie die angrenzende Sattelkammer erreichten, nahm ihre Mutter eine der drei Fackeln von der Wand und stieß eine weitere massive Eichenholztür auf. Dahinter kam eine hinab führende Treppe zum Vorschein. Zögerlich folgte Magery ihrer Mutter ins Dunkel. Es dauerte eine ganze Weile bis sich ihre Augen an die schummrige Umgebung gewöhnt hatten. Sie befanden sich in mitten des Weinkellers.
"Das letzte Fass ist leer. Dort wirst du hinein steigen und dich verstecken. Wenn die Luft zu dick zum atmen wird, kannst du den Hopfen aufdrücken. Aber nicht den Deckel. Der würde zu viel Lärm machen. Hast du das verstanden?"
Sie waren nun vor dem besagten Fass stehen geblieben.
"Und was ist mit dir Mutter? Wo wirst du dich verstecken?", fragte die Grafentochter mit unruhiger Stimme.
"Ich werde mich bei den anderen Frauen und Kindern im Festsaal verbarrikadieren. Als ihre Gräfin muss ich in so einer schweren Stunde bei ihnen bleiben. Aber sorge dich nicht mein Engel. Alles wird gut werden." Schnell wandte sie den Kopf ab und wischte ihre verräterischen Tränen weg, die all ihre Zweifel und Ängste welche sie vor ihrer Tochter zu verbergen versuchte freigelegt hätten. Denn Marolyn Arrington Gräfin von Devon ahnte bereits, dass es kein Entkommen gab. Sie saßen wie eine verschreckte Herde Schafe in der Falle, denn der Wolf war bereits an ihren Toren.

Ruthless (Ivar, Vikings)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt