Magery hatte kein Gefühl dafür wie viel Zeit verstrichen war, seit dem sie in dem engen Fass saß. Die nur vom Samtstoff ihres Kleides bedeckten Knie taten ihr bereits weh und der penetrante, alles umnebelnde Geruch von vergorenem Wein zog ihr stechend in die Nase. Gerade wollte sie sich mit den Händen auf den Fassboden stützen, um ihre Beine von dem schweren Gewicht zu entlasten, als sie erstarrte. Es hatte begonnen. Wenn auch nur gedämpft vernahm Magery ein alles erschütterndes Krachen. Als hätte man das massive Burgtor aus den Angeln gerissen und eine Herde beschlagener Pferde darüber gejagt. Alles was danach an die Ohren der jungen Grafentochter drang hörte sie nur gedämpft. Es fühlte sich an als hätte ihr jemand die Ohren mit Wolle gestopft. Doch selbst abgeschirmt von drei Wänden jagte ihr die darauf folgende Geräuschkulisse einen eiskalten Schauer über den Rücken. Unter die galoppierenden Hufe mischten sich Schlachtrufe und das Gebrüll der Männer. Doch es klang anders als die Schlachtrufe und Schreie welche die englischen Krieger in den Trainingslagern von sich gaben. Dieses Gebrüll klang durchdringender, wahnsinniger, fast schon einem irren Lachen gleich. Die Rufe wurden von dem dazugehörigen Klang aufeinanderkrachender Stahlklingen ergänzt. Immer wieder durchzogen scharfe Schmerzensschreie die Luft. Panisch presste sich das Mädchen die Handflächen auf die Ohren, bis die Kampfgeräusche nach einer gefühlten Ewigkeit langsam verebbten. Dennoch blieb sie in dieser Haltung zusammengekauert sitzen, bis sie erneut ein Knallen vernahm. Doch dieses mal klang es nicht von den Wänden abgeschirmt. Es war näher. Jemand hatte die Tür zum Weinkeller eingetreten. Eine unglaubliche Angst überkam Magery. Ihre Hände begannen unwillkürlich zu zittern und Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr das Adrenalin durch die Venen schoss und die Sinne schärfte. Erneut drangen Männerstimmen an ihr Ohr. Sie konnte nicht verstehen worüber gesprochen wurde, da sie nicht mit der Sprache der Wikinger vertraut war. Die Schritte kamen näher. Lacher schallten durch das alte Kellergemäuer. Es schien als hätte der Fund des Weines die Männer leichtmütig gestimmt.
Ein Aufschrei entfuhr ihren Lippen, als der Fassdeckel über ihr mit einem Knartschen zur Seite geschoben wurde. Magery wurde von zwei Armen gepackt und nach oben gerissen. Unwillkürlich kniff die Adelige beim grellen Licht der Fackeln die Augen zusammen. Während sie mit aller Kraft probierte sich durch Blinzeln schneller an die Helligkeit zu gewöhnen, spürte das zierliche Mädchen, wie sie grob an den Rippen gefasst und aus dem Holzfass gehoben wurde. Vor ihr standen zwei junge Männer. Sowohl ihre Lederrüstungen, als auch ihre Gesichter waren von Blut besudelt, was Magerys Züge in Entsetzen erstarren ließ. Die Haare der Kämpfer waren in einer Art geflochten, wie es in England sonst nur die Frauen taten. Der Größere von ihnen hielt eine massive Doppelaxt bedrohlich in den Händen. Er entspannte sich jedoch sofort wieder, als er das junge Mädchen genauer in Augenschein genommen hatte. Ihre dünnen Arme hatte sie krampfhaft um den Körper geschlungen und ihre Augen wirkten durch die riesigen Pupillen fast schwarz.
Der jüngere der Beiden schmunzelte und raunte dem hinter ihm stehenden Wikinger etwas zu. Dieser lachte kurz auf und deutete dann mit dem Kopf zu Tür. Der andere nickte zustimmend, griff Magery am Oberarm und zog sie hinter sich her. Als sie die Treppe erreichten stolperte die Grafentochter über die vorletzte Stufe. Doch der eiserne Griff ihres Peinigers verhinderte dass sie stürtzte. Als sie die Stallungen erreichten, waren die meisten Boxen bereits leer. Nur die alten oder gebrechlich aussehenden Pferde standen nach wie vor im Stroh. Auch ihre eigene Stute Kallkyra war verschwunden.
Ein nasser Wind schlug ihnen entgegen, als sie auf den Burghof traten. Magery zog scharf die Luft ein als sie sah, was sich hier abgespielt haben musste. Der vom Regen durchnässte Boden war von Verletzten und Toten überseht. Über ihnen knieten Wikinger, die das Hab und Gut der Gefallenen plünderten. Auf Aß geifernde Raben hatten sich auf den Zinnen der Burg eingefunden und krächzten eine höhnische Melodie in den aschgrauen Himmel.
Der Griff um den Arm des jungen Mädchens löste sich. Jedoch nur, um ihr kurz darauf in den Rücken zu stoßen und sie weiter in den Burghof zu buxieren. Mit jedem Stoß der Magery zwischen die Schulterblätter traf wuchs ihre Hilflosigkeit. Wo brachte er sie hin? Krampfhaft suchten ihre Augen den Boden nach etwas ab, womit sie ihren angehenden Entführer auf Distanz bringen konnte. Ihr Blick fiel auf ein Kurzschwert, das neben einem umgekippten Karren im Schlamm lag. Magery atmete tief ein. Plötzlich schien sich alles in ihrem Umfeld langsamer zu bewegen. Wie im Rausch zog der Innenhof an ihr vorbei. Nun war die Adelige nah genug. Blitzschnell bückte sie sich und griff nach dem Schwert. Mit einem Ruck riss sie es hoch und wirbelte herum. Die Klinge traf ihr Ziel im Gesicht. Jedoch war der junge Krieger der Schneide reflexartig ausgewichen, sodass sie lediglich einen Schnitt auf seiner Wange hinterließ.
Beide Hände fest um den Knauf geschlungen blickte sie ihrem Gegenüber mit einer Mischung aus Triumph und Furcht vor den Konsequenzen ihrer Tat in die Augen. Dieser starrte sie für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken an. Dann wischte er sich mit dem fliederblauen Ärmel seines Wamses über die frisch entstandene Wunde und betrachtete das Blut, was auf dem Stoff einen lilanen Farbton annahm. Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht, bevor er seine Augen wieder auf das Mädchen richtete. Diese erhob das Schwert erneut und ließ es mit einem Schrei aus Wut und Verzweiflung auf den Krieger hinab fahren. Der wich jedoch mit einer halben Drehung nach hinten aus, sodass ihr Schlag ins Leere traf. Vom Schwung und Gewicht des Schwertes außer Balance gebracht, stolperte sie ein paar Schritte nach Links, konnte sich jedoch erneut fangen. Die restlichen, im Burghof verbliebenen, Wikinger waren durch Magerys Schrei aufmerksam geworden und wendeten sich nun zu ihnen. Ein paar der Krieger riefen dem jungen Kämpfer lachend etwas zu, woraufhin er provokant seine Arme ausbreitete und einen Schritt auf das junge Mädchen zu ging. Auf die Brust ihres Gegenübers zielend stach sie erneut zu. Doch wieder wich er mit einer fließenden Bewegung zur Seite aus. Ein Raunen ging durch die Menge der Schaulustigen. Immer wieder grölten sie für Magery unverständliche Sätze in ihre Richtung, welche meist mit dem Wort "Hvitserk" begannen. Ob das sein Name war? Ein paar von ihnen hatten ihre mit Wappen bemalten Schilde vor sich gestellt und schlugen mit ihren Waffen im Takt darauf, was sich schnell in eine Kampfmelodie verwandelte. Zwischen ihnen war ihr ein Mann auf einem Einspänner ins Auge gefallen. Obwohl sie ihn erst auf Anfang 20 schätze, hatte er auffallend breite Schultern, die von dicken Lederriemen geschützt wurden. Eine Hand auf den Bock des Wagens gestützt, eine andere die Zügel umfassen, beobachtete er mit einem undefinierbaren Blick das Geschehen. Magery spürte, wie das Blut in ihren Ohren zu rauschen begann. Ihre dünnen Finger waren so krampfhaft um den kalten Stahlgriff geklammert, dass das Weiße an ihren Handknöcheln bereits hervortrat. Doch obwohl ihre Muskeln vom bloßen aufrecht halten des Schwertes zu schmerzen begannen, konnte sie nicht aufhören. Zu groß war ihre Wut und Verzweiflung über das, was die Angreifer ihrem Zuhause angetan hatten. Verwüstung herrschte nun an dem Ort, der noch eine Nacht zuvor Schutz und Geborgenheit für Magery bedeutete. Mit einem weinerlichen Aufschrei schlug sie diesmal nach Hvitserks Kopf. Dieser duckte sich jedoch und vollendete seine Bewegung, indem er einen Satz auf die Grafentochter zu machte. Erschrocken wollte sie zurück weichen, doch der Kämpfer hatte Magery schon am Arm gepackt und zu sich gezogen. Sie war ihm nun so nah, dass sie seinen warmen Atem auf ihrem blassen Gesicht spüren konnte. Ein Geruch aus Leder und Blut umgab ihn. Doch wie sie wusste, war es nicht sein eigenes. Ein Anflug von Übelkeit überkam sie.
Hvitserks Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen.
"Genug gespielt kleine Lady.", sagte er mit einem starken nordischen Akzent und umfasst ihre beiden Handgelenke mit seiner einen Hand. Magery wehrte sich nicht. Sie war viel zu geschockt, dass der Wikinger ihrer Sprache mächtig war. Mit seiner Rechten hatte Hvitserk mittlerweile ein Juteseil von seinem Gürtel gelöst und es ihr um die Hände geschlungen. Lässig legte er sich das lange Ende des Seils über die Schulter und zog sie hinter sich her.
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Ruthless (Ivar, Vikings)
Romance[Ivar Fanfiction, Vikings] 900 nach Christus, England Sie kamen im Morgengrauen. Niemand wusste woher sie kamen oder wohin sie gingen. Doch wo ihre drachenköpfigen Schiffe am Horizont auftauchten herrschte bald Tod und Verderben. Davon erzählten zum...