Die Wachskerzen der großen Halle waren fast gänzlich herunter gebrannt, als Magery durch den Türspalt hinein huschte. Lediglich ein Tisch nahe des hölzernen Thrones war mit glimmendem Licht erhellt. Die Wachen die daran saßen donnerten reihum Krüge und Würfelbecher auf das massive Holz, während sie sich quer über die Tafel abwechselnd schmutzig beleidigten und in grölendes Lachen ausbrachen. Es schien um einen hohen Einsatz zu gehen. Denn kein einziger Wachmann machte Anstalten seine Augen vom Spielbrett abzuwenden, als Magery durch die Schatten der Halle schlich. Vorsichtig tastete sie sich ihren Weg an der Wand entlang, bis ihre Finger auf eine eiserne Kante stießen. Obwohl der Rahmen der kleinen Tür durch die man sie ein paar Tage zuvor noch in den Thing geführt hatte gut im Dunkeln verborgen war, schaffte Magery es den Knauf hinter einem Fischernetz zu ertasten und mit einem Ruck zu öffnen. Kurz zögerte sie und lauschte, ob ihr Vorhaben unbemerkt geblieben war. Dann schlüpfte sie durch den engen Spalt in die kühle Nachtluft Kattegatts.Brynnas Gut lag rund zwei Meilen östlich des Marktplatzes. Magery hatte das vor ein paar Tagen durch einen glücklichen Zufall erfahren, als Askur einem mit frisch geschmiedeten Äxten und Speeren beladenen Knecht den Weg beschrieben hatte. Jedoch wäre die detailreiche Beschreibung wohl nicht von Nöten gewesen. Lediglich die Himmelsrichtung hätte genügt. Denn Brynnas Gut war nicht zu übersehen. Es befand sich auf einem mit Gras bewachsenen Hügel, von dessen Spitze aus man eine weitläufige Aussicht auf ganz Kattegatt hatte.
Im Zentrum der Anhöhe erhob sich eine imposante Halle, die von zwei weiteren Gebäuden umrahmt wurde. Eine Palisade zog sich an der Rückseite des Hügels entlang und machte das herannahen von den Bergen aus unmöglich.Geräuschlos ließ sich die junge Engländerin zwischen zwei Pappelstämmen auf den Bauch fallen. Der Hain verbarg ihre Umrisse vor möglichen Blicken der Wachposten. Erst jetzt spürte Magery, wie ihr Herz unnatürlich stark und schnell gegen den erdigen Untergrund schlug. Die kühle Nachtluft hatte alle anfänglichen Schwaden der Wut gelichtet. In der Ferne konnte sie erspähen, wie ein Bewaffneter vor der Halle auf und ab schritt. Magery schluckte. Noch konnte sie umkehren, sich davor bewahren einen riesigen Fehler zu begehen.
Sie haderte. Ein Steinkautz segelte über die Baumgruppe hinweg. Sein Schatten glitt lautlos über den erleuchteten Platz, bevor er wieder mit der Dunkelheit verschmolz.
Trotz seiner seidigen Schwingen, war der Raubvogel nicht unbemerkt geblieben. Einer der Wachmänner hatte ihn ebenfalls erspäht. Gebannt blickte er nun in die Dunkelheit, die durch die Umrisse der Berge, wie eine schwarze Festung vor ihm aufragte.'Und wenn die Ängste nach mir greifen-....', flüsterte Magery die Anfänge eines ihrer Lieblingsgedichte.
'lähmend wie ein Gift sich schürt,
Und die Zweifel um dich streifen,'Langsam richtete sie sich auf.
'Dir alles nehmen was dir gebührt-.."
Mit einer energischen Bewegung löste Magery ihre Mantelschnalle, woraufhin der Umhang zu Boden fiel.
'Dann raff dich auf aus deinem Elend,
Entfache eine lodernd Glut,
Denn wenn kein Retter mehr am Leben
Ist alles was dir bleibt der Mut.'Während die Worte noch in ihrem Bewusstsein wiederhallten, stieß sich das junge Mädchen vom Boden ab und rannte los.
Der Wachmann hatte Magery nach wie vor den Rücken zugekehrt, als sie den Abhang hinab hetzte und sich mit einem Hechtsprung hinter einer Heuwagendeichsel verbarg. Unruhig suchten ihre braunen Augen die Gebäude ab.
Die großspeichigen Räder boten keinen guten Blickschutz und die Fackeln warfen ihre eigenen Umrisse flackernd auf den Platz. Der Wagen war mit schief gedrehter Achse, lieblos vor einem der flankierenden Gebäude abgestellt worden. Rund zehn Schritte trennten sie noch von dem Tor, das mit angelehnten Flügeln an der Stirnseite des Gebäudes prangte. Noch war der Wachmann abgewandt. Mit etwas Geschick könnte sie das Gebäude mit vier Sätzen erreichen und sich durch den Türspalt ins Innere retten. Aber was machte sie überhaupt so sicher, dass dies die Stallungen waren? Vielleicht befanden sich hier auch die Unterkünfte von Brynnas Lehnsmännern und sie würde geradewegs in einen Haufen betrunkener Wikinger stolpern.
Leise kroch Magery bis zur Hinterachse des Heuwagens, um einen Blick auf das andere Gebäude erhaschen zu können. Doch bevor sie die Umrisse hinter dem Schein der Platzfackeln ausmachen konnte, fiel ihr Auge auf etwas anderes. Rund zehn Schritte neben ihr ragte die Silhouette eines Kornspeichers in die Nacht. Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt, da er fast gänzlich in der Dunkelheit zu verschwinden schien. Keine einzige Fackel erhellte seine Umgebung. Magery war der Grund bekannt. In ihrer Heimat wurde es nicht anders gehandhabt. Denn ein einziger Funken genügte, um das Getreide wie Zunder in Flammen aufgehen zu lassen.
Kein Jarl der Welt würde den Kornturm neben den Unterkünften seiner Männer bauen lassen, wo regelmäßige Handgreiflichkeiten und Brände keine Unüblichkeit waren. Sie musste sich also unmittelbar vor den Stallungen befinden.
Magery warf noch rasch einen Blick über die Schulter, bevor sie zu den Torflügeln hetzte und durch den Spalt schlüpfte. Erleichterung überkam sie, als der vertraute Geruch von Leder, Heu und Pferdeschweiß an ihre Nase drängte. Die meisten Pferde standen dösend in ihren Boxen und hoben nur kurz den Kopf, als Magery die Stallgasse entlang schritt. Sie hatte eine Kerze von der Halterung genommen, die als einzige Lichtquelle über den Tränken prangte. Ihr Herz machte einen Satz, als sie Kallkyra in einer der hinteren Boxen erspähte. Die Stute sah im spärlichen Kerzenschein noch magerer aus, als die Engländerin sie vom Marktplatz in Erinnerung hatte. Ein leises Schnauben etwich den Nüstern der Stute, als sie ihren Kopf über den hölzernen Balken streckte und sich von Magery am Kopf berühren ließ. Eine einzelne Träne ran über ihre Wange, als sie in die Augen ihres Pferdes blickte und ein Stück Heimat darin erkannte.
DU LIEST GERADE
Ruthless (Ivar, Vikings)
Romance[Ivar Fanfiction, Vikings] 900 nach Christus, England Sie kamen im Morgengrauen. Niemand wusste woher sie kamen oder wohin sie gingen. Doch wo ihre drachenköpfigen Schiffe am Horizont auftauchten herrschte bald Tod und Verderben. Davon erzählten zum...