Kapitel 94

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Ich sehe meine fast blauen Finger an. Shawns rechte Hand versucht sie zu wärmen, doch ich ziehe sie ihm weg. Er muss sich auf den Verkehr konzentrieren, ermahne ich ihn. Seufzend leistet er meinem Befehl Folge.
Zuhause holt Shawn meine Bettdecke herunter und kuschelt sich auf der Couch an mich. Seine Haut fühlt sich beinahe heiß an. Meine besorgte Mama kocht mir derweil einen Ingwertee auf. Ich verbrenne mir drei Mal die Zunge, bevor ich die Tasse hinstelle und einschlafe.

Als ich aufwache, redet Shawn leise mit Mama. Zumindest versucht er es, denn Mamas Englisch ist derart miserabel, dass das schon eine Kunst für sich ist. Ich greife nach dem Tee, der mittlerweile kalt ist, doch der scharfe Geschmack des Gewürzes wärmt mich trotzdem.
Was habe ich mir dabei gedacht, einfach so in die Kälte zu laufen? Ich bin froh, dass keiner der beiden versucht, mich darauf anzusprechen.

Als ich mich besser fühle, entschließe ich mich dazu, zu Claire zu fahren. Ich will sie zur Rede stellen. Ich kann nicht verstehen, warum sie es mir vorenthalten haben.
Shawn will mitkommen, aber ich lasse ihn nicht. Ich fahre ihn in unsere Wohnung und verabschiede mich dort. Dann fahre ich endlich zu Claire.

Sie sitzt im Wohnzimmer und sieht fern. Naja, zumindest läuft der Fernseher. Sie scheint an ihm vorbeizusehen.
"Claire." "Oh." Sie wendet mir ihren Blick zu. Ihre Augen sind glasig. "Willst du... Willst du vielleicht etwas trinken?" "Nein, danke.", erwidere ich emotionslos. "Wie ist es passiert?" Ich weiß nicht warum ich genau diese Frage stelle. Will ich sie einfach nur mit dem Unfall konfrontieren?
"Wahrscheinlich ein Betrunkener", fängt sie leise an. Sie schluckt und sieht wieder den Fernseher an. "Er hat sie in der Dunkelheit zu spät gesehen. Lucie, sie wollte doch nur nach Hause gehen! Sie war mit Nico feiern. Sie hat nichts getan! Nie!" Aufgebracht dreht sie sich um und sieht mir direkt in die Augen. Tränen laufen über ihr Gesicht, doch sie macht keine Anstalten, sie wegzuwischen. Ausdruckslos sehe ich sie an. Ich verstehe nicht. Oder ich will nicht verstehen. Plötzlich springe ich auf.
"Warum habt ihr es mir nicht einfach gesagt, verdammt? Sandra ist mir auch wichtig! Ich sollte doch auch darüber Bescheid wissen! Immerhin ist sie meine Freundin!" Claire fängt an zu schluchzen und ich halte es hier nicht mehr aus. Nachdem ich aucs dem Haus gerannt bin, werfe ich mich auf den Autositz und fange ebenfalls an zu weinen.

Bei jedem Schluchzer erzittert mein ganzer Körper. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. Wie soll es jetzt weiter gehen?

-

Sandra: Hast du Lust auf eine Shoppingtour?

Sandra: Hallo?

Sandra hat sich immer um mich gekümmert. Ich habe mich oft genug an ihrer Schulter ausgeweint. Sie dagegen blieb stark.

Sandra: Willst du heute was unternehmen?

Lucie: Geht nicht, sorry. Ich bin gerade in Kanada! Ich will Shawn überraschen.

Sandra: Omg, wie cool! Warum hast du mir nichts gesagt?!

Lucie: Naja, es war ein ziemlich spontaner Trip. Ich hab' den Flug erst gestern gebucht und schlafe wahrscheinlich bei Shawn.

Sandra: Schon klar. XD Viel Spaß!

Aber ist wirklich alles klar? Sie wäre gerne mitgefahren, das weiß ich. Und wenn sie sich ein eigenes Hotelzimmer hätte buchen müssen.
Und noch etwas fällt mir auf. Immer nur 'ich'. Wie oft habe ich sie gefragt, wie es ihr geht? Ohne dass es eine lose Begrüßungsfloskel war?

Lucie: Lust, morgen shoppen zu gehen?

Melanie: Klar doch!

Claire: Keine Zeit. Ich besuche meine Oma.

Sandra: Ich liege mit Fieber im Bett.

Lucie: Oh nein. Gute Besserung!

Ja, Sandra ging gerne aus und ja, sie schlug manchmal über die Stränge. Aber einen so lockeren, lebenslustigen Menschen wie sie habe ich bis jetzt noch nie getroffen. Ein Wunder eigentlich, dass sie und Melly, wo sie doch beide so verschieden sind, so unzertrennlich waren.

Lucie: Leute, wir machen einen Roadtrip!

Sandra: Dein Ernst?!? Wohin??

Lucie: Wie wär's mit Rom?

Claire: Schätzchen, du bist genial.

Melanie: Rom, wir kommen!

Sie war sofort begeistert. Eigentlich waren es alle. Selbst nach den vielen Stunden im Auto konnten wir einander noch leiden. Wenn das nicht wahre Freundschaft ist?

Später habe ich versucht, sie mit Nico zu verkuppeln. Eigentlich war es eine wirklich bescheuerte Idee, aber irgendwie hat es funktioniert. Sandra erlebte totales Gefühlschaos und Nico musste zugeben, dass sie doch besser zu ihm passt, als ich. Doch was ist jetzt mit ihm? Wie wird er damit umgehen?

Sandra: Willst du heute was machen? Melly hat keine Zeit. :)

Lucie: Shawn ist dieses Wochenende hier. Aber komm doch vorbei, wenn du willst!

Ich habe ihn immer vorgezogen. Ich dachte, das sei nur logisch, da ich ihn ja nicht so oft sehe. Aber darf man dafür wirklich die Freunde vernachlässigen?

Und dann hat sie Nico auf meine Geburtstagsparty eingeladen. Das ist das beste Geschenk, das sie mir hätte machen können. Es hat so ausgesehen, als könnten wir wieder Freunde werden. Doch, nach alldem, können wir das?

Kid in love | Shawn Mendes FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt