1 - Bloß weg!

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Ich erinnere mich viel zu gut an den Moment, als der Laster ein ätzendes Geräusch von sich gab und sich dann in Bewegung setzte.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, begleitet von einem heißen Adrenalinschuss.

Jetzt gab es kein zurück mehr.

Wie in Trance starrte ich auf die hektischen Bewegungen der Scheibenwischer. Der Sturm schien nicht nachlassen zu wollen und zum ersten mal begann ich etwas wie Erleichterung zu spüren.
Die warme Klimaanlage tat meinem bibberndem Körper gut und die besänftigen Geräusche der Scheibenwischer und das belanglose Schnattern im Radio ließen mich aufatmen.

Als der LKW mit einer Geschwindigkeit die Autobahn entlang preschte, entstand in mir das Gefühl bereits ganz weit weg von dem Ort zu sein, den ich verabscheute. Mit dem, auch die wütenden Stimmen meiner Eltern, welche sich in mich hineingeprägt hatten wie vertraute Schlaflieder.

Ich konnte den Vorwurf, die Enttäuschung darin hören. Den Hass, wenn sie mit hochrotem Kopf auf mich zeigten, ohne mich anzublicken.
Als wäre ich überhaupt nicht da. Als wäre ich es nicht Wert genug auch nur in irgendetwas mit einbezogen zu werden.

Ich presste die Lippen aufeinander. Wollte am liebsten fluchen und schreien.
Den aufgestauten Gefühlen Raum lassen und meinen inneren Schmerz zeigen.

Doch als im Radio irgend ein Lied von den Toten Hosen zu spielen begann und der Fahrer am Rädchen der Lautstärke drehte, platzte ich aus meinen trüben Gedanken und zwang mich zur Besinnung.

"Wie heißte' denn?", ertönte die schmierige Stimme wieder neben mir und ich unterdrückte den Drang ein Stück von ihm wegzurücken.
Ich wollte den Kopf schütteln und sagen, dass ihn das nichts anginge. Wollte stark und überzeugt wirken. Doch als ein zögerndes "Ella", über meine Lippen kam, musste der Fahrer sich bereits völlig im klaren sein, dass neben ihm kein wildes, freches Gör saß.

Nein, neben ihm saß keine selbstbewusste Frau, die ihr Leben in die Hand genommen hatte. Neben ihm saß ein gebrochenes Mädchen das aus Panik die Flucht ergriffen hatte, angespornt von Wut und Angst.

Ich bereute es sofort ihm diese weitere offensichtliche Information über mich preisgegeben zu haben.
Warum hatte ich nicht gelogen?! Warum hatte ich mich nicht als Robyn, Luca, oder Isa ausgegeben?

Etwas mehr peppiger und weniger Mädchenhaft.

Wenn der Typ auch nur ansatzweise was mit Menschenkenntnissen anfangen konnte, dann wusste er jetzt bereits folgende Dinge über mich:

Erstens, dass ich viel zu jung war.
Zweitens, dass ich ziemlich Planlos wirkte.
Drittens, dass ich ein naives Kind war und viertens, dass ich garantiert ein Schwächling war.

Na super.

"Kannst mich Ralf nennen.", sagte der Mann und sein anzügliches Grinsen machte mir Angst.
Dunkle Bartstoppeln umrahmten seinen Mund und über seine rechte Augenbraue zog sich eine blasse, lange Narbe.

Ich wünschte mir plötzlich einfach, dass er anhalten würde. Das er mich gehen ließ und ich endlich nach Luft schnappen konnte.

Kurz war es still.
Man hörte nur die rhythmischen Schläge der Scheibenwischer, während das Lied mit seinen letzten Akkorden endete.

Und dann passierte etwas Schreckliches.

Ich spürte, wie sich seine rechte Hand auf meinen Oberschenkel legte. Groß und klobig.
Mir wurde augenblicklich Kotzübel und ich hielt mir panisch die Hände vor den Mund.

Verdammte Scheiße.

Eine unglaubliche Hilflosigkeit und Angst legte sich um mein Herz und umschloss es mit einer solchen Kälte, dass ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.

HE WILL SEND HIS ANGELSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt