Der nächste Morgen war schrecklich. Es war viel zu früh um aufzustehen, ich hatte kaum geschlafen und ich war mehr als bedrückt, was meine weiteren Pläne anbelangte. Mein Hals tat etwas weh, da ich in der Nacht dummerweise gefroren hatte und als wäre das nicht schon genug, musste ich zu meinem entsetzten feststellen, dass ich meine Periode bekommen hatte. Stöhnend schleppte ich mich aus dem Badezimmer. Ich konnte es mir wirklich nicht leisten auf Dauer hier zu wohnen. Wie verlockend der Gedanke jetzt erst recht wurde, ich konnte mich nicht an den Bequemlichkeiten richten. Ich dachte daran, ob ich vielleicht irgendwo Geld verdienen könnte, aber für einen Aushilfejob war ich wahrscheinlich noch zu jung. Und die Angst meine Identität zu verraten war ja auch noch da. Ich hatte seit dem letzten Mal bei Kjetill im Auto nicht noch einmal Nachrichten gehört, aber ich war mir sicher, dass die Medien weiterhin über mein Verschwinden berichteten.
Schlecht gelaunt und etwas neben der Spur begann ich damit meine Sachen zu packen und das Zimmer wieder so herzurichten, wie es anfangs ausgesehen hatte. Dann ging ich zum Frühstück und füllte meinen Magen mit den Croissants, die mich an das erste Frühstück bei Kjetill erinnerten. Jedoch schmecken diese lange nicht so frisch. Plötzlich beschlich mich ein schlechtes Gefühl. Ob die Polizei inzwischen seine genaue Adresse herausgefunden hatte? Ich hielt mit dem essen inne und schluckte schwer den Inhalt in meinem Mund hinunter. "Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar.", hörte ich Kjetills Stimme in meinem Kopf. Er hatte dabei so zuversichtlich geklungen. Als hätte er alles im Griff. Ein Teil in mir wollte ihm glauben schenken, der andere wand sich vor Sorge. Ich hoffte so sehr, dass es ihm gut ging und dass ich ihm nicht geschadet hatte.
Bedrückt aß ich zu ende und verließ dann den Frühstückssaal. Ich musste mich jetzt echt mal aufmachen. Schwermütig drückte ich die Eingangstüre der Herberge auf und zog meinen Koffer lustlos über den groben Schotter des Hofes. Ich wünschte es wäre Sommer. Dann würde ich mir einfach ein Zelt kaufen und problemlos mal hier, mal da zelten. War das illegal? Ach was solls, ich hielt mich ja schon lange nicht mehr ganz genau an die Regeln. Meine Fantasie begann sich alles mögliche auszudenken, während ich den selben Weg wie gestern wieder in die Stadt entlanglief. Musste ich mich jetzt in ein öffentliches Gebäude begeben und mich dann verstecken, bis es abgeschlossen wurde? Die Vorstellung in einer verlassenen Schule, oder Fabrik zu schlafen jagte mir einen gruseligen Schauer über den Rücken. Das war absurd und absolut unheimlich. Seufzend blickte ich durch eines der Schaufenster, an dessen Scheibe ein Schildchen mit der geschnörkelten Aufschrift 'Geschlossen' hing. Die Meisten Läden hatten geschlossen. Wegen der Weihnachtstage. Stöhnend setzte ich mich wieder in Bewegung. Oh, Weihnachten ging mir so auf den Keks!
Fröstelnd schlang ich meinen Schal fester um mich und vergrub meine schniefende Nase darin. Die morgendliche Frische war noch kälter als sonst. Ich musste stark aufpassen, dass ich mich nicht noch mehr erkältete. Mit diesem Gedanken streifte ich durch die leeren Straßen und Gassen der Stadt, das Gefühl der Hilflosigkeit ständig präsent. Ich sah die geschmückten Fenster der Häuser und konnte praktisch die fröhliche und friedvolle Atmosphäre riechen. War ich denn die einzige, deren Leben ein ständiges Dilemma war?
Ich schluckte beschämt, als ich den zusammengekauerten Obdachlosen am Straßenrand liegen sah. Ich wäre fast an ihm vorbeigelaufen, ohne auch nur seine Existenz zu bemerken. Stumm betrachtete ich das schlafende Gesicht des Mannes, welcher sich bestimmt mit fünf Decken eingedeckt hatte und so verwahrlost unter einem Dachvorsprung der Läden kauerte. Mitleid durchflutete mein Herz und ich zog traurig die Augenbrauen zusammen, nicht wissend wie ich helfen konnte. Ich war ja selbst irgendwie Obdachlos zurzeit, obwohl ich es eher wie eine Urlaubsreise dargestellt hatte. Und trotz dieser Verschönerung der Umstände ging es mir besser, als manch anderem. Ich sollte dankbar auf das blicken, was ich in meinem Leben hatte und nicht undankbar auf das, was ich nicht hatte.
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HE WILL SEND HIS ANGELS
Paranormal[*Longlist Wattys2018*] "Er kam wie vom Himmel geschickt. Trat in mein Leben und prägte es. War mein Anker in der Not und bewahrte mich vor einem Absturz in das schwarze Loch der Verzweiflung. Doch dann verschwand er, -nichts wies auf seine Existenz...