15 - Die Angst zu vergeben

42 4 4
                                    

Die ersten Sekunden, nachdem ich meine Augen öffnete, waren seltsam. Blinzelnd blickte ich im dunklen Zimmer umher, ohne jegliche Orientierung. Aber dann fiel mir mit einem Schlag wieder ein wo ich mich befand und in sekundenschnelle saß ich kerzengerade in meinem Bett. Alles wirkte so surreal und für einen Moment glaubte ich, dass die vergangenen Tage bloß ein endlos langer Traum gewesen waren. - Aber das waren sie nicht.

Langsam kehrten all die Geschehnisse in mein müdes Hirn zurück, bis ich bei gestern Nacht angelangte, wo ich mit Noah die Straße entlanggelaufen war und er mich an seiner Haustür zu der Silvesterparty eingeladen hatte. Danach war ich bloß schnell die Straße wieder runter gelaufen, in der Hoffnung keinen Ärger verursacht zu haben. Ich stöhnte, als ich an meine Mutter dachte, welche mich mit tadelndem Blick in der Wohnungstür abgefangen hatte. Zu meinem erstaunen hatte sie kein Wort gesagt und nur mit einem müden Nicken in Richtung der Treppenstufen gezeigt. Ich war dankbar, dass sie nichts zu Noah gesagt hatte, obwohl sie sich denken konnte, dass ich mit ihm geredet hatte. Etwas an ihrer Art war irgendwie komisch. Anders als sonst, wie ich meinte. Aber vielleicht hatte ich es mir auch bloß eingebildet und ich versuchte etwas in ihr Verhalten hineinzuinterpretieren, was gar nicht da war.

Mit einem flauen Gefühl im Magen stand ich auf, schob die schweren Vorhänge auf und machte das Licht an.
Morgen war Silvester. Ein neues Jahr würde beginnen und ich war wieder hier bei meinen Eltern. Wie schön es doch wäre jetzt in Kjetills Wohnung aufzuwachen, frischen Kaffeegeruch in der Nase zu haben und zu wissen, dass ich ganz weit weg von all den Schmerzen war.
Es würde wieder keine Rolle spielen wer ich war, wo ich herkam und wohin ich wollte. Bloß das hier und jetzt mit einem Jungen, der so viel Klarheit ausstrahlte, wie ich es noch nie in meinem Leben erlebt hatte.
Ich seufzte wehmütig. Ob wir uns je wiedersehen würden? Wir hatten nie darüber geredet. Jetzt so rückblickend realisierte ich, dass ich tatsächlich in so etwas wie in einer Traumblase gefangen gewesen sein musste. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht wie es möglich wäre vielleicht den Kontakt zu halten. Klar, übers Handy wäre es schlecht gegangen. Meins lag Zuhause, ich konnte meine Nummer nicht auswendig und in seiner Hand hatte ich ehrlich gesagt nie ein Handy gesehen, was mich so im nachhinein etwas stutzig machte. Ein anderer Gedanke durchkreuzte meinen Kopf: Ob er mich überhaupt wiedersehen wollte?

Wie automatisch wanderten meine Finger zu dem Schlüssel, den ich sorgfältig in der Schublade meines Nachtschränkchens verstaut hatte. Ob er es wollte oder nicht,- ich musste. Zum einen wegen dem Schlüssel. Es war unmöglich, dass ich ihn einfach behielt, ohne dass er es wusste. Das schlechte Gewissen nagte immer noch an mir, aber trotz meiner Dummheit verspürte ich etwas wie Erleichterung. Jetzt hatte ich einen triftigen Grund ihn wieder zu besuchen. Und der andere Grund war, dass ich ihn schrecklich vermisste. Ich hatte nicht gewusst, dass jemand den man für nur so kurze Zeit kannte, so ein Loch in einem hinterlassen konnte..

Ein plötzlicher Gedanke kam mir in den Sinn. Ich griff nach meinem Handy, welches einsam auf meiner Kommode lag und entsperrte es. Ich ignorierte die tausend Nachrichten, die unaufhörlich aufploppten, nachdem ich das Internet einschaltete und sprang direkt zu Instagram und Facebook. Ich versuchte Kjetills Profil ausfindig zu machen. Die Chancen es zu finden standen schlecht, da ich weder seine Adresse, seinen Nachnamen oder seine Freunde kannte. Ich realisierte erneut, wie wenig ich wirklich über ihn wusste. Waren das nicht Dinge, die man zuerst über jemanden erfuhr, bevor man die Tiefen seiner Seele offenbarte?

Mir viel seine Gemeinde ein, aber auch dort kam ich nicht sonderlich weit. Ich seufzte frustriert. Wahrscheinlich besaß Kjetill nicht mal einen Instagram Account. Bei seinem Aussehen hätte er sicherlich viel Erfolg gehabt. Aber das schien mir irgendwie typisch für ihn. Ein Hauch seiner Existenz schwebte überall, aber fassen und begreifen konnte man ihn nicht. Ihn auf irgendeiner Instagram Seite zu finden, schien mir unwirklich. Vielleicht war es naiv so zu denken, aber es fühlte sich so an, als sei unsere Verbindung etwas ganz besonderes. Als hätten für diese paar Tage nur er und ich existiert und alles andere wäre eine Illusion.

HE WILL SEND HIS ANGELSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt