11 - Die Wahrheit

73 6 6
                                    

"Ich würde alles für meine Weltreise hergeben.", sagte Tess mit einem Grinsen, aber ich zweifelte nicht daran, dass sie es Todernst meinte. Und das faszinierte und verwunderte mich zugleich.

"Wieso eigentlich?", wagte ich zu fragen, als ich meine Sachen staunend an die Seite stellte und meine eiskalten Füße aus den Stiefeln befreite. Ihr Haus war wirklich, wirklich schön. Nicht im Sinne von protzig und edel, sondern eher auf die Wohnlichkeit und Einrichtung bezogen. Der Boden bestand aus einem gemütlich warm aussehenden Holzparkett und war vom Flur, bis zum Treppenansatz mit einem wild gemustertem Teppich bedeckt. Diese wand sich in einer geschmeidigen Kurve nach oben und bestand ebenfalls aus Holz. Es sah aus wie der Zugang zu einer verwunschenen Bücherei im Dachgeschoss, jedoch führte diese wahrscheinlich bloß auf die zweite Etage.

"Weiß nicht, ich will einfach die Welt sehen..", holte mich Tess wieder aus meinem Staunen und ich folgte ihr schnell ins anliegende Wohnzimmer, nachdem ich meine Jacke aufgehangen hatte. "Das Leben hält nun mal mehr als das hier bereit.", sagte sie schulterzuckend und machte eine fuchtelnde Handbewegung, die wohl ihr Haus einbeziehen sollte. Ich staunte nicht schlecht, als ich den riesigen Tannenbaum im Wohnzimmer entdeckte, der froh und bunt geschmückt war. Zudem hatte das Wohnzimmer ein riesiges Fenster, was mit Lichterketten ausgestattet war. Bei helligem Tag hatte man hier sicher eine wunderschöne Aussicht.

Tess ließ sich auf das rote Sofa sinken und klopfte auffordernd mit einer Hand neben sich. "Und nun zu dir!", grinste sie mich erwartungsvoll an und ich brachte ein gequetschtes Lächeln zustande. "Was willst du denn wissen?", kratzte ich mit meiner angeschlagenen Stimme und hoffte, sie würde es auch wirklich nur auf die Erkältung schieben. "Na hallo?!", rief sie entrüstet und griff nach einer Decke, die rechts von ihr lag, um unsere Füße damit zu bedecken. "Erzähl mir von deiner Reise! Du sagtest es wäre eine spontane Aktion gewesen.. was hat dich dazu getrieben?" Ich schluckte. Ja ich hatte ihr erzählt, dass ich spontan aufgebrochen war. Und ich fragte mich so langsam, ob es nicht ein Fehler gewesen war mit diesem Fernweh getriebenen Mädchen darüber gesprochen zu haben. Aber andererseits konnte ich mich echt nicht beschweren diesen Weg eingeschlagen zu haben, denn das hatte mir zumindest für heute wirklich den Arsch gerettet. Also biss ich mir auf meine Zunge und beschloss ehrlich mit ihr darüber zu sprechen. Tess würde mich verstehen. Sie wirkte mir sehr offen und außerdem musste ich endlich mit dieser scheiß Verklemmung aufhören. Jetzt wo wir hier waren konnte ich ja nicht erwarten, dass wir keine persönlichen Gespräche führen würden.
Tess sah mich mit großen Augen an und ich räusperte mich verhalten. Angespannt holte ich tief Luft, nur um diese dann sofort wieder heraus zu lassen.

"Ich hab's Zuhause nicht mehr ausgehalten.", presste ich hervor. Es war gar nicht mal so schwer gewesen die Wahrheit rauszurücken und jetzt wo die ausgesprochene Antwort greifbar im Raum herum schwebte, klang es gar nicht mal so dramatisch, wie in meinem Kopf. Fand ich. Tess's Augen wurden noch ein Stück größer und ich fragte mich ernsthaft, wie groß diese wohl noch werden konnten. Doch anstatt ein riesen Drama aus dem Thema zu machen, nickte sie bloß und murmelte: "Verstehe.." Erleichtert schluckte ich. "Ja.."

"Und da dachtest du, du machst mal spontan eine Reise?", fragte sie weiter und ich besann mich im letzten Moment, nicht weiterhin zu nicken. Moment. Sie hatte das falsch verstanden. Das, was ich schön geredet eine 'Reise' genannt hatte, war doch bloß eine Umschreibung von dem Wort 'abgehauen'. Aus dem Staub gemacht, reiß aus genommen, geflohen.

Ja, das war es. Eine Flucht, keine Reise.

Verunsichert sah ich von meinen Händen auf, die in den letzten paar Sekunden mehr als interessant gewesen zu sein schienen. Sollte ich sie anlügen? Ihr die Wahrheit als ein Märchen auftischen und sie in dem Glauben lassen, ich sei aus Fernweh gegangen? Es würde nicht schwer sein das ganze so zu drehen, dass ich nicht verdächtig wirkte. Ich könnte das Ganze hier und jetzt so aussehen lassen, als sei ich eine begeisterte Weltentdeckerin, so wie sie. Aber etwas hinderte mich daran.
Als ich ihr in die Augen sah, die so gar keine Ähnlichkeit mit denen von Kjetill hatten, musste ich trotzdem daran denken, wie sehr mich seine Ehrlichkeit fasziniert und begeistert hatte.

HE WILL SEND HIS ANGELSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt