Jagd

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Sam kam ihn an diesem Abend nicht mehr besuchen. Tobias wusste, dass sein kleiner Bruder ihm seine erste Abneigung gegenüber den Neuigkeiten noch immer nicht verziehen hatte und er konnte ihn verstehen, konnte nachvollziehen, dass alles was Sam sich tief in seinem Inneren wünschte eine Familie war, die ihn liebte, ein Zuhause, das ihn immer willkommen hieß und Freunde, mit denen er die schönen Erlebnisse des Lebens teilen konnte. Ein kleines Stück Sicherheit. Ein klein wenig Wärme. Ein bisschen Geborgenheit. All das, was ein Rudel ihm geben konnte. Sam hatte zu lange darauf verzichten müssen, war zu lange ein Außenseiter gewesen. Natürlich hatte er Tobias, aber Tobias wusste selbst, das er manchmal nicht genug war. Nicht genug sein konnte. Er konnte nicht großer Bruder, Vater, Mutter und Freund in einem sein. Er hatte Sam immer gehalten, wenn er geweint oder sich verletzt hatte, hatte die Wunden umsorgt und behandelt, aber er war nie derjenige gewesen, mit dem Sam raufen konnte, mit dem er trainieren konnte, um sich zu verbessern. Im Nachhinein fragte er sich manchmal, warum es ihn überraschte hatte, das er ein Omega war. So viel hatte darauf hingewiesen und doch hatte er all die kleinen Zeichen nicht zusammensetzen können, andere Dinge hatten seine Gedanken eingenommen. In gewisser Weise war er also froh, dass James Sam das gab, was er ihm nicht geben konnte und er würde Sam niemals dafür verurteilen, dass er lediglich versuchte dazu zugehören, schließlich wusste er nichts von all dem was sich im Hintergrund abspielte. Er wollte bloß glücklich sein.

Tobias wusste genau, was er fühlte, denn genau jetzt, genau in diesem Moment, empfand er dasselbe. Er lag allein in seinem Bett, eine dünne Decke fest um seinen zierlichen Körper geschlungen, die nicht in der Lage war, ihn von der Kälte des Raumes abzuschirmen. Sie fraß sich direkt in sein Herz, während es draußen dunkler wurde und die Schatten der Wände stetig wuchsen, doch er machte nicht den Fehler seine Augen zu schließen, denn er wusste, dass die Albträume ihn wieder heimsuchen würden, dass sie ihn bewegungsunfähig machen und ihn zwingen würden, all das Grauen, was sie für ihn bereit hielten zu durchleben. Aber es war nicht die Angst vor den Albträumen, die ihn schließlich leise schluchzen ließ, seine Schultern zum beben brachte und ihm ein Wimmern entlockte. Es war die Einsamkeit. Es war die Tatsache, dass er Sam gerade nicht in seinen Armen halten konnte. Es war die schleichende Panik, dass man das letzte Band das ihn noch am Leben hielt, kappen würde, dass auch sein Bruder ihm den Rücken kehren würde. Dass er vollkommen allein sein würde. So wie jetzt in dem viel zu kalten Bett, mit den viel zu großen Schatten um ihn herum, die ihn zu erdrücken drohten. Sein Wimmern brach. Das Zittern wurde stärker. Die Luft brannte ihn seinem geschundenen Hals. Sie entwich ihm zischend. Schneller. Immer schneller. Bis er sich fragte, ob sie seine Lungen überhaupt noch erreichten. Ob die Schatten sich wirklich zu einem dunklen Feuer entwickelt hatten? Ob er sich das Flackern nur einbildete? Er versuchte nach dem schwarzen Feuer zu greifen, aber seine Hände blieben leer, zuckend fielen sie auf das Bett zurück. Sein Geist spielte ihm einen Streich und er verlor die Kontrolle. Tobias konnte spüren, wie seine Fingerspitzen langsam kribelten, bevor sie taub wurden und er wusste, dass er hyperventiliierte. Er sollte es gewöhnt sein, doch an dieses Gefühle würde man sich nie gewöhnen können.

Ruhe. Atmen. Es wollte nicht gelingen. So erlaubte er sich mit offenen Augen zu träumen, sich zu zwingen, die Schatten mit schönen Bildern abzulösen. Sam's Portrait erschien und er ließ sich in den vertrauten Anblick der blauen Augen fallen, ließ sich von einer besseren Zeit träumen, einer Zukunft, wie er sich wünschte. Glücklich. Sam mit einer Familie und er selbst mit jemandem an seiner Seite, der ihm etwas von jener Last nahm, die auf seinen Schultern lastete. Er hasste es stark sein zu müssen. Jeden Tag aufs Neue, aber es war keine Option zu scheitern. Und doch war es verlockend sich vorzustellen, seine Sorgen teilen zu können. Sei es nur für einen Moment. Einen Augenblick. Eine Sekunde.

Die Nacht endete, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Der Morgen erschien ihm unwirklich wie nie. Nicht eine Minute hatte er geschlafen und als er sich draußen vor dem Rudelhaus zu dem restlichen Rudel gesellte, waren seine Augen dunkel unterlaufen und geschwollen, aber sie fanden Sam sofort und registrierten dessen Lächeln glücklich. Es war ein Trost in Anbetracht dessen, was ihm bevor stand, dass sein kleiner Bruder ihm immerhin verziehen hatte. Sie winkten sich kurz zu, nicht in der Lage ein paar Worte zu wechseln, nach denen Tobias sich so sehnte, da Sams Gruppe sich bereits auf den Weg machte. Sie würden sich im nächst gelegenen Waldstück auf die Suche nach Wild begeben. Um James herum hatten sich die restlichen Rudelmitglieder versammelt, die sich alle nacheinander in ihre Wolfsform verwandelten. Es bedurfte keiner einleitenden Worte. Jeder kannte seinen Platz. Tobias als kleinster an der Spitze, damit James direkt hinter ihm laufen konnte, um ihn hin und wieder zu schubsen und sich mit den anderen darüber zu amüsieren, wie er unsanft auf dem Boden landete. Er nannte das Einstimmung. Ihr Jagdgebiet lag deutlich tiefer im Wald, weit weg von den anderen, damit Sam die Menschen weder hörte, noch roch. Darauf achtete James peinlich genau.

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