Brüder

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Tobias rannte. Verfluchte seine Beine dafür, dass sie müde und taub waren, dass sie ihm eigentlich nicht gehorchen wollten und dass die Erschöpfung ihn so schrecklich langsam machte. Es dauerte viel zu lange, bis er jenen Fleck erreichte, an dem Benjamin zuvor gestanden hatte. Einige Aschereste hingen noch in der Luft, sie segelten immer weiter hinunter, bis einige von ihnen auf ihm und in seinen Haaren landeten. Als würde Benjamin ihn ein letztes Mal umarmen. Nie wieder würde er ihn in die Arme schließen können, nie wieder seine Stimme hören oder ihm seine Bewunderung dafür aussprechen, dass er damals den Mut besessen hatte, einen anderen Weg einzuschlagen, am Leben zu bleiben und sogar auf menschliches Blut zu verzichten. Er hatte es nicht verdient zu sterben. Auch wenn Tobias sich bewusst war, dass Benjamin vielleicht tief in sich, irgendwo, noch den Wunsch danach gehabt hatte. Er hatte seine Ewigkeit nur verlängert, um sie zu beschützen. Und das hatte er getan. Benjamin hätte sich sicherlich kein anderes Ende gewünscht, als mit seinem Ende einen von ihnen zu retten und doch waren sie ihrerseits nicht bereit gewesen, ihn gehen zu lassen.

Sein Tod riss eine Lücke in ihre Reihen, die niemand würde füllen können, dafür war Benjamin viel zu einzigartig gewesen. Tobias Finger strichen durch die Asche am Boden, schoben sie zusammen, bis sie sich aufsammeln ließ und er einen Teil davon aufhob und fest umklammerte. Er würde diesen Teil Benjamins mitnehmen und ihn irgendwo, an einem sonnigen Plätzchen, im Garten neben dem Rudelhaus begraben. Es war keine Option ihn hier gänzlich an der Front zurückzulassen, Benjamin sollte irgendwie für immer an ihrer Seite bleiben.

Miles kniete indes nur wenige Zentimeter neben ihm. Dicke Tränen liefen dem Beta über die Wangen. Er sprach kein Wort, so still hatte der Omega ihn noch nie erlebt. Es gruselte ihn. Mit einem fluchenden, tobenden Miles hätte er umgehen können, aber jetzt wusste er nicht, was er tun sollte. Niemand schien es zu wissen, bis Cassandra sich neben dem Beta niederließ, ihren Kopf auf seine Schulter legte und einfach mit ihm trauerte. Der Anblick schnürte Tobias die Kehle zu, er wandte schnell den Blick ab, bevor er völlig die Kontrolle über sich und seine Fassung verloren hätte. Elijah war es, der ihn vorsichtig wieder auf die Beine zog und an sich presste. Auch sie blieben stumm. Teilten ihr Leid, welches durch die Nähe des anderen erträglich wurde. Sie lauschten ihren Herzschlägen, glücklich, dass sie überlebt, dass sie einander hatten. Benjamin wäre sicherlich entzückt gewesen und Tobias war unheimlich froh, dass der Vampir noch miterlebt hatte, wie sei einander ihre Liebe gestanden hatten. Sie würden ihn nie vergessen.

Elijah löste sich für sein Gefühl viel zu schnell von ihm, so dass ihm ein protestierendes Grummeln über die Lippen kam, doch als sein Alpha sich umdrehte, wurde ihm bewusst, dass er Zacharias und den weißen Wolf völlig vergessen hatte. An ihrer Lage hatte sich nicht geändert, der Wolf presste Zacharias noch immer nieder, bis Elijah ein paar seiner Rudelmitglieder, unter anderem Nat, anwies, ihn gefangen zu nehmen. Denjenigen, die sich unterworfen hatten, wurde Gnade gewährt. Zacharias hingegen würde fürs Erste eine Gefängniszelle sein neues zuhause nennen dürfen. Das war das mindeste, was er als Strafe für Benjamins Tod zu erwarten hatte. Währenddessen hatte sich der weiße Wolf erhoben, um Nat und den anderen Platz zu machen und lief nun zögerlich auf Tobias zu. Die Rute zwischen den Beinen eingeklemmt und die Nase ganz weit unten. Er winselte ununterbrochen. Unsicher. Schuldbewusst. Und doch konnte Tobias diesen großen, blauen Augen nicht böse sein. Auch nicht nach alldem, was vorgefallen war. Sie waren und blieben bis auf alle Zeiten Brüder. Deshalb schenkte er Sam jenes Lächeln, das nur für ihn vorbehalten war und der Wolf verschwendete keine Sekunde, verwandelte sich noch im Sprung und warf sich mit voller Wucht um Tobias Hals.

Sam war wieder da, wo er hingehörte. An Tobias Seite. Fest von ihm umschlungen, bereit ihn vor all dem Bösen in dieser Welt zu bewahren. Der Omega genoss es endlich wieder Sams Geruch tief einatmen zu können und ihm beruhigend über den Rücken zu streichen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er seinen kleinen Bruder vermisst hatte. Sam hatte etwas von seinem Herzen mit sich genommen, als er das Band zwischen ihnen gekappt hatte. Jetzt war Tobias wieder vollständig und ihr Band würde sich von neuem stärken. Die Zeit würde auf ihrer Seite sein. Davon hatten sie nun genug. Die Träume des Omegas hatten sich erfüllt, seine Wunschvorstellungen waren auf dem besten Weg Wirklichkeit zu werden. Und doch war der Preis dafür hoch gewesen. Aber er hatte Sam. Elijah. Eine Zukunft.

"Es tut mir so leid", flüsterte Sam mit erstickter Stimme.

Tobias schüttelte nur mit dem Kopf. Er wollte keine Entschuldigung hören. Sam hatte die ganze Zeit unter James Einfluss gestanden und der Omega hatte ihm nie die Wahrheit erzählt, um ihn davon abzuhalten. Sam hatte es einfach nicht besser gewusst. Er war verletzt gewesen, hatte aus Wut gehandelt, die ihn blind gemacht hatte. Das machte sein Verhalten zwar nicht ungeschehen, aber sie waren nun einmal eine Familie. Jeder beging Fehler und sie waren Brüder, dafür da einander zu verzeihen.

"Bitte, verzeih mir", fügte Sam zitternd hinzu, der das Kopfschütteln anscheinend falsch gedeutet hatte.

"Es ist alles gut, Sam", beruhigte Tobias ihn, fuhr ihm zärtlich über die Haare, "Ich habe dich wieder. Das ist alles, was zählt."

"Ich habe dich lieb, großer Bruder", schluchzte Sam da und schien beinahe in Tobias Nacken verschwinden zu wollen.

"Ich weiß", erwiderte der Omega sanft, "Und ich dich."

Sie verblieben so für eine Weile und niemand erlaubte es sich, sie zu stören. Dieser Moment gehörte ganz allein ihnen. Niemand konnte ihnen diesen nehmen. Nach all dieser Zeit war er Balsam für ihre Seelen. Sie fingen an zu heilen. Für den Anfang nur ein wenig, aber es blieb ein Anfang und niemand würde sich mehr zwischen sie stellen können, jetzt, wo sie sich wiedergefunden hatten. Sie waren dort, wo sie hingehörten. Zusammen.

Es war Sam, der Tobias irgendwann aus seinem Griff entließ und sich mit seinem Unterarm über das Gesicht fuhr, um es etwas in Ordnung zu bringen und die Tränenspuren hinfort zu wischen. Schniefend drehte er sich zu Elijah und blickte unsicher zu Boden, bis er sich traute erneut das Wort zu erheben.

"Bei dir möchte ich mich auch entschuldigen", sagte er leise, beinahe schüchtern, "Ich habe dich und dein Rudel hinter gegangen, sowie deinen Beta verletzt, obwohl ihr nur an Tobias und meinem Wohl interessiert wart. Es tut mir leid, mehr als ich sagen kann. Ich hoffe, du kannst diese Entschuldigung irgendwann annehmen."

Elijah hatte ihm mit harter Miene gelauscht, die sich nun etwas lockerte, wo er ein Seufzen von sich gab.

"Du hast dich wie ein kindischer Idiot verhalten", knurrte der Alpha, "Nicht einen Moment hinterfragt, was James dir eingeredet hat und stattdessen deinen Bruder verstoßen, um ihn darauf aus Rache zu hintergehen und Miles fast zu töten."

Sam kamen erneut die Tränen und Tobias unterzog Elijah einem warnenden Blick. Natürlich hatte Sam sich eine Ansprache verdient, aber der Omega wollte es trotzdem nicht akzeptieren, dass Elijah ihn wieder zum weinen brachte. Schließlich hatte Sam seine Fehler eingesehen, sein weißes Fell war Beweis genug. Elijah schien sich Tobias Anspannung durchaus bewusst zu sein, denn mit einem Stöhnen hob er abwehrend die Hände und fügte hinzu:

"Aber ich nehme deine Entschuldigung an, weil du schlussendlich doch den richtigen Weg gewählt hast und weil ich deinen Bruder liebe und er mir ansonsten die Hölle heiß macht."

Der Omega schenkte seinem Geliebten ein zuckersüßes Lächeln.

"Ich knüpfe deine Aufnahme in mein Rudel und die Annahme deiner Entschuldigung jedoch an eine Bedingung und zwar wird es an dir sein, sich um Miles zu kümmern, bis er wieder gesund ist. Ich werde kein Jammern akzeptieren, egal wie schwer er dir diesen Job machen wird. Du wirst ihn zur Not füttern und mit Gewalt zur Ruhe zwingen, sollte es erforderlich sein."

Sam stimmte dem nickend zu, bevor sie sich daran machten, die anderen zum Aufbruch aufzufordern. Die Verletzten mussten versorgt und die Schattenwölfe in das Rudel eingegliedert werden, was gewiss viel Arbeit mit sich bringen, aber Tobias war optimistisch, dass sich die Mühe lohnen würde.

Als die meisten bereits den Heimweg angetreten hatten, blieb er jedoch zurück. Wieder an jener Stelle, an der Benjamin seinen Tod gefunden hatte. Seine Asche noch immer in seinen Händen. Er dachte an Benjamins Geschichte. Daran, wie sich das erste Mal begegnet waren und welche Angst er vor dem Vampir gehabt hatte. Daran, wie er in ihm einen wahren Freund gefunden hatte.

Elijah umschloss seine Hände sanft. Er küsste die Wange des Omegas.

"Er wird immer in unseren Erinnerung sein", flüsterte der Alpha ihm zu.

"Ja, das wird er. Ich werde ihn nie vergessen", antwortete Tobias, bevor er Seite an Seite mit Elijah sich ebenfalls auf den Weg machte. Einer Zukunft des Friedens entgegen.

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*heul, schluchz* Es kommt nur noch der Epilog....

Und entgegen vieler Erwartungen doch fast ein Happy End <3


GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt