Scherbenhaufen

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Sie verharrten. Bewegungsunfähig. Als wären sie inmitten eines grauenhaften Theaterstücks und einer von ihnen hätte seinen Text vergessen. Niemand schien die richtige Zeile wiederzufinden, niemand in der Lage zu improvisieren. Sekunden wurden zu Ewigkeiten, die Zeit schien zu gefrieren und der Vorhang wollte einfach nicht fallen. Während draußen vor der Tür das Jaulen von Wölfen lauter wurde. Im Zentrum dieses Chaos stand Tobias. Er wagte es nicht zu atmen. Noch war er weit entfernt zu begreifen, was gerade eben geschehen war, doch er konnte es bereits spüren. Früher, als er noch auf seine erste Verwandlung gewartet hatte, hatte er sich gefragt, ob er tatsächlich jener weiße Wolf sein und wie sich seine Wolfsform anfühlen würde. Er hatte sich ausgemalt, wie toll es sein würde. Ein Gefühl von unbändiger Kraft. Stärke. All die Dinge, die er sich immer gewünscht hatte. Aber sein Fell war braun gewesen und das Gefühl unterschied sich nicht von seiner menschlichen Form. Es war dieselbe Angst. Dieselbe Schwäche. Doch nun war alles anders. Auch das Gefühl. Nur war es nicht so großartig und erfüllend, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Gegenteil, es überforderte ihn. Alles fühlte sich falsch an, als würde dieser Körper gar nicht zu ihm gehören.

Jedes Geräusch erschien lauter, jeder Geruch feiner, jede Farbe viel leuchtender, als hätten sich alle Reize intensiviert. Sie prasselten ungefiltert auf ihn ein und er nahm sie alle wahr, als hätte er endlich den Blick auf das große Ganze, aber es war zu viel, zu viel auf einmal um es zu verarbeiten oder einzuordnen. Am liebsten wäre er davongelaufen, in irgendeine Höhle, fernab von all den Eindrücken, die ihn erschlugen. Nur blieb ihm dies verwehrt.

Und als er sich für einen Moment erlaubte die Augen zu schließen, die noch immer tränten, um zu mindestens eine Reizquelle auszuschalten, da setzte die Zeit plötzlich wieder ein, der Vorhang fiel und die Sekunden schien an ihm vorbei zurasen. Elijahs Alphastimme hallte durch den Raum. Laut und fordernd und doch zwischen dem ganzen Schwall von Geräusch für Tobias kaum zu verstehen. Er winselte, als Knochen brachen, Körper sich bogen und Fell sich formte. Miles sandfarbener Wolf packte ihn gerade im Nacken, als seine Lieder sich wieder öffneten. Der Griff seiner Zähne konnte nicht an Elijahs Kraft heranreichen, aber er genügte völlig, um Tobias ins Straucheln zu bringen. Nat war auf Sam zugelaufen, versuchte ihn mitzuziehen, doch dieser wehrte mit allem, was er hatte.

Tobias wollte zu ihm, wollte ihn immer noch überzeugen, mit ihm zu kommen, nur konnte er es nicht, weil Miles in altbekannter Manier keinen Millimeter nachließ und ihn unnachgiebig aus dem Rudelhaus zog. Der Omega winselte verzweifelt, schlug mit seinen Pfoten um sich, weil es nicht in Frage kam, Sam zurückzulassen. Ohne ihn würde alles keinen Sinn mehr machen. Sein Bruder war sein Leben, sein Herz. Doch er kämpfte einen aussichtslosen Kampf.

Miles kümmerten die Kratzer nicht, die Tobias ihm zufügte. Der Beta verschwendete keinen Blick zurück, er lief stur geradeaus, egal wie sehr sich der Omega gegen ihn auflehnte. Die beiden strauchelten mehr durch den Wald, als dass sie liefen. Irgendjemand war ihnen auf den Fersen. Vielleicht war es James, der sie beide töten würde. Vielleicht waren es Elijah und Nat, denen es gelungen war Sam zu bändigen. So sehr er sich anstrengte, Tobias konnte es nicht sagen. Noch immer prasselte viel zu viel aus der Umwelt auf ihn ein, selbst einfache Dinge wie die Geruchserkennung schienen ihm deshalb nicht mehr möglich zu sein. Ihm fehlte aufgrund dessen auch jede Orientierung. Es traf ihn völlig unvorbereitet, dass sie plötzlich das Auto erreichten. Benjamin saß am Steuer, offensichtlich hatte er auf sie gewartet. Auch er verharrte im ersten Moment völlig überrumpelt beim Anblick von Tobias Fell, bis Miles sich noch im Laufen zurückverwandelte, eine hintere Tür des Autos aufriss und hineinsprang, wobei er Tobias mit sich zog. Seine neue Wolfsform war zwar größer als seine alte, aber immer noch klein genug, um mit Miles auf die Rückbank zu passen.

„Miles?!"

„Fahr", brüllte der Beta so laut, dass Tobias seine Pfoten empor riss und versuchte sie auf seine Ohren zu pressen.

GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt