Die Grenze zwischen Realität und Traum war erschreckend schmal. In manchen Augenblicken war er sich im klaren darüber, wo er sich befand. Im dunklen Inneren eines Transporters, irgendwo im Nirgendwo, auf dem Weg zum Hauptquartier der Wölfe um dem Alpha vorgestellt zu werden. Im nächsten Moment war dieses Wissen meilenweit entfernt und er schmerzfrei, irgendwo auf Wolke 7, fernab von allen Wölfen, glücklich wie noch nie. Es war eine angenehme Abwechslung zu seinen Albträumen, aber nichts desto trotz hasste er es die Kontrolle über seinen eigenen Körper zu verlieren. Nach wie vor war er bewegungsunfähig, nur war es jetzt das Medikament, welches ihn Schachmatt setzte und nicht mehr Miles. Tobias konnte noch nicht sagen, welche Art der Bewegungsunfähigkeit er präferierte, aber in Miles Armen war es eindeutig bequemer gewesen, als im Innenraum des Transporters, wo er bei jeder Bodenwelle, die der Transporter überwand, kräftig durchgeschüttelt wurde.
Sein Zeitgefühl hatte sich schon lange verabschiedet, vielleicht dauerte die Fahrt nur ein paar Minuten, vielleicht ein paar Stunden, dass konnte er nicht sagen. Fest stand, dass das Durchschütteln irgendwann ein Ende fand. Daran, wie man ihn aus dem Transporter in einen ziemlich schicken, im Holzstil gehaltenen Raum gebracht hatte, konnte er sich nicht erinnern. Zu diesem Zeitpunkt war er wieder in seiner Wolkenwelt, fest in die Decke eingerollt, die man ihm für den Transport mitgegeben hatte. So musste es sich anfühlen unter Drogeneinfluss zu sein. Wenn es nach Tobias gegangen wäre, hätte er für ewig in der Wolkenwelt bleiben können. Sam war bei ihm, sie lachten gemeinsam und keine Bodenwelle störte mehr seinen Traum. Leider verlor das Medikament irgendwann seine Wirkung. Während sein Kopf noch hin und her wankte, nahm er bereits die ersten Umweltreize wieder war. Er befand sich nun offenbar in einem Büro, dem Schreibtisch und unzähligen Bücherregalen nach zu urteilen. Man hatte den Omega samt seiner Decke vor dem Schreibtisch platziert, so dass er quasi mitten im Raum lag. Trotz schummriger Sicht wirkte dieser einigermaßen einladen, aber irgendetwas stieß ihm übel auf. Er konnte es nur noch nicht benennen.
Grummelnd und genervt von der Taubheit in seinen Gliedern und der erschreckenden Langsamkeit seiner Gedanken, bemühte er sich darum, seinen Kopf endlich halbwegs zum Stillstand zu bekommen. Als ihm das einigermaßen gelang, blieben seine Augen auf einem jungen Mann mit braunen Locken ruhen, der auf einem Stuhl gegenüber des Schreibtisches saß. Entfernt erinnerte er sich an das Gesicht, er war es gewesen, der ihn gemeinsam mit Miles zum Transporter getragen hatten. Es dauerte einige Sekunden, bis Tobias seine Züge daraus schloss und den jungen Mann als 'Nat' identizierte. Nat erwiderte seinen Blick nicht, sondern steckte gerade in einem Gespräch mit seinem Sitznachbarn, der einzig weiteren Person in diesem Raum. Dieser Mann war eindeutig älter, etwa um die vierzig, mit glänzendem, beinah goldenem Haar und Wangenknochen, für die wohl jedes Männermodel neidisch geworden wäre. Er war wunderschön, sein Alter sah man ihm fast nicht an und seine Stimme klang in Tobias müden Ohren atemberaubend. Aber irgendetwas störte ihn an diesem Mann, als würde sich in ihm alles manifestieren, was den Omega so an diesem Raum abstieß. Doch er wollte einfach nicht darauf kommen.
"Bist du dir sicher, dass wir ihm kein Wasser holen sollten, Nat? Der Arme muss nach der Fahrt doch ganz durstig sein", murmelte der Fremde besorgt.
"Benjamin, wie oft soll ich es noch sagen?! Er ist unser Gefangener und kein Gast, den es zu umsorgen gilt. Ich habe dir zuliebe schon auf den Maulkorb verzichtet, obwohl er nach den Angaben von Miles ziemlich bissig sein soll."
"Aber er ist so klein, er kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun. Er hat sogar dieses Menschenkind gerettet. Sieh ihn dir nur an, er ist so zierlich, dass man ihn einfach nur an sich drücken und vor dieser Welt beschützen möchte."
"Du wirst ganz bestimmt nicht mit ihm kuscheln. Wir warten bis der Alpha kommt und vorher machen wir gar nichts mit ihm. Kein Wasser. Kein Essen. Kein Streicheln. Verstanden?"
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Gefangen
WerewolfTobias hat mit dieser Welt seit langem abgeschlossen. Den Angriffen und Beleidigungen seiner Rudelmitglieder schutzlos ausgesetzt, gibt es für ihn nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Bis auf seinen kleinen Bruder. Um diesen zu schützen ergibt sich...