Liebe

10.2K 507 95
                                    

Entgegen aller Bemühungen seitens Namaya ließen sich Elijah und Tobias nicht dazu überreden für ein paar Tage bei den Hexen zu bleiben. Es zog sie zurück, um den anderen von den Neuigkeiten zu berichten. Die alte Urhexe verabschiedete sie nur schweren Herzens, Tobias zog sie in eine feste Umarmung, die er verblüfft über sich ergehen ließ, während Elijah sich bereits durch die Lücke der Mauer gezwängt hatte.

"Verwende den Nachtschatten weise", flüsterte sie ihm zu, "Und gib auf dich acht."

Er warf ihr ein unsicheres Lächeln zu und wollte Elijah folgen, da hielt sie ihn am Arm zurück. Verwundert blieb er stehen, sich innerlich fragend, was sie ihm jetzt noch mit auf den Weg geben wollte.

"Noch eines, bevor du gehst", fügte sie hinzu, "Du solltest es ihm sagen. Man weiß in diesen Zeiten nie, ob man später noch die Möglichkeit dazu hat."

"Elijah?", fragte er verwirrt, "Was soll ich ihm sagen?"

"Was du fühlst. Ich mag alt sein, aber nicht blind. In jedem Blick, den du ihm zuwirfst, erkennt man es. Ihr interagiert, als würdet ihr euch bereits Jahre kennen, unterstützt einander sofort. Spannt sich der eine an, so tut es auch der andere. Wie ein Spiegelbild. Du liebst ihn, nicht wahr? Jaelyn meinte einst, dass es tiefer Gefühle bedürfe, bis ein weißer Wolf sein Herz an jemanden verliert, aber wenn er es tue, ließe er diese Liebe nicht mehr los. Ihrer Erzählungen nach bindet sich ein weißer Wolf nur an seinen Seeelenverwandten. Seinen Mate."

"Seinen Mate?" Tobias Stimme versagte. Die Legende der Mates war um einiges älter, als die des weißen Wolfes. Sie war von Generation zu Generation weitergegeben worden, auch wenn viele der Meinung waren, dass es sich dabei um einen Mythos handeln musste. Mateverbindungen waren selten, beinahe nie vorkommend. Es hieß, dass das Band zwischen zwei Seelenverwandten nicht zu lösen sei, dass es sie auf ewig zusammenhalten und stärken würde, sobald sie einander mit ihrem Zeichen versehen würden. Nur glaubte Tobias nicht daran. Es war nicht mehr als Märchen. Nicht mehr als eine schöne Geschichte, um sich in friedvolle Zeiten zu träumen und sich der Illusion von Glück hinzugeben.

"Das kann nicht sein", antwortete er daher, "Soetwas wie Mates gibt es nicht, auch wenn das nicht bedeutet, dass ich nicht etwas für Elijah empfinde. Aber wir können unmöglich seelenverwandt sein. Laut dem Märchen heißt es, man erkenne seinen Mate sofort, man könne ihn sogar anhand seines Geruchs finden."

Die Hexe schmunzelte bloß: "Geschichten verändern sich, wenn man sie weitererzählt, ein neuer Teil kommt hinzu, ein alter Teil wird vergessen. Doch der Kern bleibt erhalten. Liebe geschieht nicht auf den ersten Blick, sie überfällt einen nicht, sie entwickelt sich. Sie wächst, und wartet darauf, irgendwann zu erblühen. Hör nicht auf die Leute, die die Legende erzählen, als wäre Liebe einfach. Wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann dass sie es nicht ist. Sie mag dich unheimlich stark machen können, aber sie kann dich auch am tiefsten verletzen. Sie ist ein wenig wie der Nachtschatten."

Damit entließ sie seinen Arm und nickte ihm aufmuternd zu. Am liebsten hätte er ihr widersprochen, doch er war sich ziemlicher sicher, dass eine Diskussion mit ihr keinen Sinn haben würde. Ein Aspekt des Alterns war eben Sturheit und ihr Schmunzeln machte deutlich, dass sie von ihrer Position nicht abweichen würde. Also beschloss er, sie in ihrem Glauben zu lassen und ihr den Rücken zu kehren. Er bemerkte ihr Winken zum Abschied nicht, zu diesem Zeitpunkt war er bereits losgelaufen und zu Elijah aufgeschlossen. Ihre Hände fanden wieder zueinander, als hätten sie sich nie losgelassen und dieser Anblick ließ das Lächeln der Hexe breiter werden, während sich die Mauer wieder schloss.



Auf ihrem Rückweg hielten Tobias Finger das Fläschchen mit dem Nachtschatten fest umklammert. Es kam nicht in Frage, es fallen zu lassen, schließlich war der Inhalt viel zu wertvoll. Aber irgendwie auch nutzlos. Noch blieb es ein großes Rätsel, wie der Nachtschatten ihnen helfen konnte, so sehr er sich auch bemühte, ihm fiel kein Szenario ein, wie man den Vampiren die Pflanze unterjubeln konnte. Dafür waren sie viel zu vorsichtig und intelligent, sie ließen sich nicht für dumm verkaufen. Es blieb die Chance, dass Benjamin vielleicht eine Idee hatte. Diese schätzte Tobias jedoch nicht besonders groß ein.

GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt