Tobias hatte keinen Schlaf bekommen. Eine Tatsache, an die er mittlerweile gewöhnt sein müsste. Doch er sah absolut miserabel aus. Seine Gesichtsfarbe glich beinahe seiner Wolfsfarbe. Er wirkte wie ein wandelndes Gespenst und so bewegte er sich auch. Langsam. Schleichend. Elijah war in der Nacht nichts Besonderes aufgefallen, weil Tobias sich dazu gezwungen hatte, vollkommen still liegen zu bleiben, um den Alpha nicht zu wecken und sich später in seinen Armen wiederzufinden. Im Moment setzte er alles daran, so viel Abstand wie möglich zu dem Alpha zu halten. Er wünschte ihm keinen Guten Morgen, als er das Wohnzimmer betrat, noch rührte er seinen Tee an. Elijah würdigte er keines Blickes, während dieser ihn von dem Sofa aus besorgt musterte.
"Ich verstehe das nicht", murmelte Cassandra, die neben dem Alpha saß, laut genug, dass Tobias sie noch verstanden, "Die Kräuter solltem ihm eigentlich helfen und ihn stärken, aber er sieht noch schlechter aus als gestern. Dabei ist dein Arm doch auch über Nacht geheilt."
Elijah erwiderte etwas, was der Omega nicht verstanden. Er starrte nur ausdurckslos auf den reich gedeckten Tisch, der ihn kalt ließ. Er hatte keinen Hunger. Ihm war nicht nach Essen zumute.
"Was ist denn los, Kleiner?", fragte ihn Benjamin, "Das Brot wird dich schon nicht beißen."
Tobias zuckte nur abwesend mit den Schultern, was sogar Miles zum Aufsehen brachte, der alle Viere von sich gestreckt in einem Sessel lag. Cassandra hatte ihn angewiesen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, damit seine Rippen bloß richtig zusammenwuchsen und der Beta hatte sich ihre Worte anscheinend zu Herzen genommen.
"Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen? Du siehst grauenvoll aus", stellte er verblüfft fest und wollte sich sogar aufrichten, doch er sackte aufgrund der plötzlichen Bewegung wieder in sich zusammen und hielt sich seine Seite.
Der Omega schüttelte bloß stur mit dem Kopf, er würde Benjamin und Miles ganz gewiss keine Antworten geben. Nicht hier. Nicht vor Elijah, sich die Schmach eingestehend, dass er weit mehr in dem Alpha gesehen hatte, als dieser jemals in ihm sehen würde. Nicht noch einmal würde er sein Vertrauen so schnell vergeben. Er bereute diesen Fehler mit jeder Faser seines Körpers. Der Raum kam ihm jetzt viel kleiner vor, die Blicke der anderen schienen ihn mit ihren Fragen niederzustechen. Er ertrug es nicht länger und sprang auf.
"Ich gehe trainieren", sagte er und stürmte aus dem Wohnzimmer, bevor ihn jemand aufhalten konnte.
Sein Weg führte ihn tatsächlich direkt zum Übungsplatz. Es tat gut zu laufen. Am Anfang ließ er seiner Wut und Enttäuschung einfach heraus. Sie machten ihn besser. Schneller. Bis er seinen Takt fand und er jedes Gefühl in der Gleichmäßigkeit seiner Schritte verlor. Für ein paar Runden konnte er jegliche Gedanken ausschalten. Sie überfielen ihn allerdings erneut, als er sich im Schneidersitz in der Mitte der Wiesenfläche niederließ. Sie gehorchten ihm nicht bei dem Versuch Cassandras Vorschlag zu folgen und sich eine markante Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen. Wieder und wieder versuchte er sich Sam vor Augen zu rufen. Wie Miles auf ihn zustürmte. Wie er bald von einem Schlag getroffen werden würden. Doch jedes Mal entglitt ihm das letzte Stück seiner Erinnerung und Elijah drängte sich in seine Gedanken. Immer wieder Elijah. Wie er nachts ein wenig schnarchte. Wie er unbemerkt die Augen verdrehte, wenn Miles ihm mal wieder auf die Nerven ging. Tobias verfluchte es, verfluchte sich dafür, dass er sich all diese Details gemerkt hatte, dass er Elijahs Schnarchen mit Freude lauschte und sein Augenrollen ihm beinahe ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Sein Wolf kam nicht ein Mal hervor. Da sprang er auf und schrie. Seine Hände an seine Schläfen gepresst. Er schrie. Seine Stimme brach. Und er schrie. Er erkannte sich nicht wieder, nie war er so laut geworden oder war so außer sich gewesen. Aber es half, mit jedem Schrei etwas mehr, bis ihm die Luft ausging und seine Wut sich etwas dämpfte.
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Gefangen
WerewolfTobias hat mit dieser Welt seit langem abgeschlossen. Den Angriffen und Beleidigungen seiner Rudelmitglieder schutzlos ausgesetzt, gibt es für ihn nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Bis auf seinen kleinen Bruder. Um diesen zu schützen ergibt sich...