Tobias wollte es nicht glauben. Für einen Moment dachte er, dass Sebastians Biss ihm vielleicht doch das Bewusstsein geraubt hatte und all dies nicht mehr als einer der bösesten Albträume der Schatten war, die sie ihm je gezeigt hatten. Aber diese Hoffnung erstarb, als sich seine Hände zu Fäusten ballten, seine Fingernägel sich tief in seine Haut gruben und der Schmerz die Szenerie real machte. Und trotzdem konnte er es nicht fassen. Sein Verstand wollte nicht annehmen, dass Sam tatsächlich vor ihm stand. Sein kleiner Bruder sollte bei Elijah sein. In Sicherheit. Weit weg von Sebastian und James, irgendwo, wo der Krieg ihm nichts anhaben konnte. Doch jetzt stand er genau im Zentrum. Die beiden Brüder sahen einander an. Nur fehlte jegliche Wärme, die sie früher geteilt hatten. Tobias Augen glänzten verräterisch vor Verzweiflung und Unglaube, während Sam diesen Blick ausdruckslos erwiderte. Er wirkte genauso bewegungslos, wie er es damals beim Austausch in James Armen getan hatte. Tobias hatte es auf einen Schock geschoben. Dessen war er sich nun nicht mehr sicher. Sam war mittlerweile ein Fremder geworden. Einst hatten sie alles geteilt, jede Erfahrung, jedes Geheimnis. Heute wusste Tobias nichts mehr von Sam, seine Wünsche und Träume waren ihm unbekannt. Sie hatten sich in zwei völlig unterschiedliche Richtungen verändert. Nichts war mehr so, wie es einst gewesen war.
"Ich denke, du solltest es tun", erhob Sam seine Stimme, die kalt und leblos an den Wänden widerhallte.
Der Omega war noch immer erstarrt und kämpfte gegen die Tränen an, die an die Oberfläche wollten, gegen die Schreie, die sich aus seiner Kehle drängen wollten, um Sam solange anzuschreien, bis er zur Vernunft kommen würde, bis seine ausdrucklose Miene einem Lachen weichen und er alles als einen schlechten Witz enttarnen würde. Nur trat dies nicht ein. Sein kleiner Bruder war nicht einmal gewillt, ihm persönlich zu sagen, was es mit dem Ganzen auf sich hatte. Er übergab diese Aufgabe stattdessen an Sebastian, als sei Tobias es nicht wert, von ihm selbst zu erfahren, was er sich für einen Plan mit dem König und den Schattenwölfen ausgedacht hatte.
"Du solltest nicht hier sein", entfloh es dem Omega verzweifelt, "Du solltest bei Elijah sein."
"Leider war es von Anfang an geplant, dass Sams Aufenthalt bei Elijah nicht von langer Dauer sein sollte", als Tobias zusammenzuckte, kräuselten sich Sebastians Lippen genüsslich, "Dein kleiner Bruder hat es dir nie verziehen, dass du ihn zurück gelassen hast, dass du ihm sein Leben im Rudel erschwert und dich ständig zwischen ihn und James gestellt hast. Dass du dich mit dem Feind verbündet hast, war dann die Spitze des Eisberges. Daher kam Sam auf James und mich zu und bot uns seine Hilfe an. Dieses Angebot konnten wir natürlich nicht ausschlagen, also erzählten wir ihm von unserer kleinen Idee: Wir würden so tun, als wollten wir sein Leben beenden, um dich im Austausch gegen deinen kleinen Bruder zubekommen. Eine Winwin-Situation. Du würdest glauben, er sei in Sicherheit und wir besäßen den weißen Wolf. Aber damit nicht genug. Sam sprach sich dagegen aus bei Elijah zu bleiben und natürlich wollte James ihn zurück in seinem Rudel, aber Elijah bot auch eine Chance, immerhin hat er durch dich einiges über die weißen Wölfe erfahren. Also sollte Sam versuchen einige Informationen zu erlangen und sich im besten Fall ebenfalls in einen weißen Wolf verwandeln. Bedauerlicherweise schöpfte wohl jemand Verdacht. Während sich der dumme Elijah aufopferungsvoll um Sam kümmerte, spionierte sein Beta ihm nach und ertappte Sam dabei, wie er ein wenig herumschnüffelte. Daraufhin blieb Sam leider nichts anderes übrig, als zu fliehen. Zum Glück hat James ihn zu einem guten Kämpfer ausgebildet. So wie es sich eben für einen neuen Beta, neben Zacharias, gehört."
Dass Sam nun James linke Hand sein sollte, drang nur sehr langsam zu Tobias vor, genauso wie die Tatsache, dass Sam ihn die ganze Zeit getäuscht hatte. Er hatte Tobias ganz bewusst zurück zu seinen Peinigern getrieben. Seine Schwächen schamlos ausgenutzt.
Sebastians Worte deuteten ohne Zweifel daraufhin, dass es zu einem Kampf zwischen Miles und Sam gekommen war. Erst in diesem Augenblick fielen Tobias mehrere kleine Verletzungen an seinem Bruder auf. Seine Arme waren von einigen blauen Flecken gezeichnet, an seinem Schlüsselbein lugte ein Teil eines blutigen Kratzers unter seinem Oberteil hervor und er schien das eine Bein nicht voll zu belasten. Und doch stand er hier. Also hatte Miles ihn ziehen lassen müssen und der Omega wimmerte, als er sich vorstellte, wie der Beta aussehen musste. Miles war niemand der aufgab, er kämpfte bis zum Ende.
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Gefangen
Hombres LoboTobias hat mit dieser Welt seit langem abgeschlossen. Den Angriffen und Beleidigungen seiner Rudelmitglieder schutzlos ausgesetzt, gibt es für ihn nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Bis auf seinen kleinen Bruder. Um diesen zu schützen ergibt sich...