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Lydia Hill

„Hey alles okay bei dir?", ich zucke zusammen, als mich jemand an der Schulter berührt.

Es dauert einen Moment bis mir klar wird, wo ich eigentlich bin. In der Schule im Lehrerzimmer. Ich habe gerade eine freie Stunde. Ich war so sehr in Gedanken, dass ich mich an den Kopierer gelehnt habe, um darauf zu warten, dass die Kopien fertig werden, habe es dann aber gar nicht gemerkt.
Das passiert mir in den letzten Tagen und Wochen immer öfter. Ich bin mit meinen Gedanken wo ganz anders, obwohl mein Körper noch da ist. Zum Glück ist mir das im Unterricht noch nie passiert.

„Ja klar. Ich war nur in Gedanken", erwidere ich schnell und nehme die Kopien und gehe damit am meinen Platz.

„Wirklich? Du wirkst etwas zerstreut", stellt Alice fest. „Du kannst mit mir reden. Ich war schließlich auch mal in derselben Situation, wie du. Ich war auch mal die neue Lehrerin, die gerade erst mit ihrem Studium fertig war und an ihrer ersten Schule war."

Ich sehe meine Kollegin an. Alice ist schon Mitte vierzig und seit vielen Jahren Lehrerin. Sie hat helle blonde Haare, trägt meist eine Bluse und dazu eine dunkle Jeans. Ganz so, wie man sich eine Lehrerin vorstellt. Sie geht in ihrem Beruf regelrecht auf und ist bei allen Schülern beliebt. Ich im Gegensatz bin die neue unerfahrene Lehrerin.

Seufzend lasse ich mich auf meinem Stuhl sinken. Vielleicht sollte ich doch mal mit jemand darüber reden. Alice wird mein Problem verstehen können. Zumindest erhoffe ich mir das.

„Na los. Raus damit. Irgendetwas beschäftigt dich doch, Lydia."

Ich fahre mir mit der Hand durch meine Haare. Es ist schließlich nichts dabei über diese Sache zu sprechen. Ich sollte nur nicht zu sehr auf die Einzelheiten eingehen.

„Ach da ist nur diese eine Schülerin, die mich verrückt macht", gestehe ich ihr ohne weitere Details zu erwähnen.

Alice blickt mich verständnisvoll an und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Außer uns beiden ist niemand hier, worüber ich auch ganz froh bin. Alice ist bisher die Kollegin mit der ich mich am besten verstehe.

„Das kenne ich. Manche Schüler sind wirklich anstrengend", sagt sie.

Na zum Glück bin ich da nicht alleine. Ich hatte schon Angst, dass es nur mir so geht.

„Ich komme mit all meinen Schülern gut klar, aber da ist dieses eine Mädchen, das...naja mit ihr fällt es mir schwer", rede ich einfach weiter.

Natürlich erwähne ich nicht, dass Tessa Davis regelrecht mit mir flirtet, auch wenn es für alle offensichtlich sein muss. Einerseits ist es mir peinlich, andererseits will ich nicht darüber sprechen. Sie bringt mich mit ihren blöden Spielchen in Verlegenheit und sorgt dafür, dass ich nicht mehr klar denken kann. Das muss schnellstens aufhören.

„Wer ist es denn?", fragt Alice weiter nach.

„Nur ein Mädchen aus meiner Französischklasse der elften."

Eigentlich wollte ich es dabei belassen und nicht zu viele Details verraten. Aber Alice hat etwas an sich das bewirkt, dass man ihr vertraut. Vielleicht ist es ihre ruhige Art oder der Blick mit dem sie einem ansieht, so als würde sie einem direkt in die Seele schauen. Verrückt.

„Das wird schon", versucht sie mich auf zu muntern und tätschelt liebevoll meine Hand.

Jetzt wird mir das ganze doch etwas unangenehm. Bevor ich noch mehr Einzelheiten ausplappern kann und meine Gefühle vor Alice darlege, stehe ich auf und schnappe mir meinen Mantel.

„Ich muss mal an die frische Luft. Eine rauchen", entschuldige ich mich bei ihr und eile davon.

Diese Tessa macht mich verrückt und noch viel mehr stört es mich, dass es mich nicht kalt lässt, wenn sie einen ihrer Sprüche los lässt oder mich, wie in Sport plötzlich berührt. Verdammt. Ich verlasse das Schulgelände und setzt mich in mein Auto, das auf dem Lehrerparkplatz steht. Hier kann ich ungestört meine Zigarette rauchen und laufe nicht Gefahr, dass wieder irgendwer auftaucht und mit mir reden will. Es ist schon schlimm genug, dass gleich wieder Französisch in der elften habe.

Den Rest meiner freien Stunde verschwende ich damit mehr als nur die eine geplante Zigarette zu rauchen und mir unnötig viele Gedanken zu machen. Widerwillig mache ich mich zurück auf den Weg ins Lehrerzimmer und hole dort meine Sachen für die nächste Stunde. Der Saal ist noch ziemlich leer, als ich dort ankomme. Es sind erst ein paar Schüler da. Eigentlich diejenigen, die immer früh kommen. Bis zum klingeln dauert es noch ein paar Minuten. Ich beginne schon mal damit meine Sachen auszupackende und das Buch zu öffnen. Immer mehr Schüler trudeln ein und lassen sich auf ihren Plätzen nieder. Als es klingelt sind so gut wie alle da. Natürlich ist Tessa Davis wieder zu spät. Daran habe ich mich schon gewöhnt. Vielleicht sollte ich sie demnächst mal nachsitzen lassen, weil sie immer so unpünktlich ist.

Da es mir aber eigentlich egal sein kann, ob sie da ist oder nicht, beginne ich mit dem Unterricht. Ich lasse die Schüler einen Text im Buch abwechselnd laut vorlesen und verbessere sie hier und da. Plötzlich geht die Tür auf und Tessa kommt herein spaziert. Ich werfe ihre einen tadelnden Blick zu und bedeute ihr, dass sie sich schnell hinsetzen soll. Sie scheint keine besonders großen Ambitionen zu haben, die Klasse zu bestehen. Langsam schlendert sie zu ihrem Platz und zieht sich ihre schwarze Jacke aus. Es dauert eine halbe Ewigkeit bis sie all ihre Bücher hervorgeholt hat. Währenddessen lasse ich Katie den Text weiter lesen, aber bin nicht ganz aufmerksam dabei. Ich beobachte immer noch Tessa. Wie immer hat sie leichte Augenringe und es macht den Eindruck, als hätte sie nicht besonders viel geschlafen. Sie trägt einen verwaschenen grauen Pullover und eine Jeans mit Löchern.

„Katie, zeig Tessa bitte, wo du aufgehört hast zu lesen", fordere ich das rothaarige Mädchen auf.

Sie befolgt meine Anweisung und hilft Tessa die richtige Textstelle zu finden, auch wenn es sinnlos ist. Es ist mir vor einigen Wochen aufgefallen, dass Tessa ein großes Defizit in Französisch hat. Sie kennt die einfachsten Worte nicht, obwohl sie schon seit vier Jahren in der Sprache Unterricht hat. Sie beginnt zu lesen und stammelt herum, da sie die Wörter nicht aussprechen kann. Ich verbessere sie bei jedem zweiten Wort und helfe ihr weiter, gebe es nach zwei Sätzen jedoch auf. Tessa scheint es nicht zu stören, dass sie nicht gerade glänzen konnte mit ihrer Leistung. Sie grinst mich an, wie sie es oft tut und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück.

„Derek, lies bitte den Text zu Ende", fordere ich einen Jungen in der ersten Reihe auf, von dem ich weiß, dass er meine Hilfe nicht brauchen wird.

Nachdem der Text gelesen ist, lasse ich die Schüler die Aufgaben dazu machen. Mein Blick schweift durch die Klasse bis mir auffällt, dass ständig getuschelt und geflüstert wird. Seufzend stehe ich auf und laufe durch die Reihen, bis ich den Grund für die Unruhe finde. Irgendwer hat einen Zettel herum gehen lassen, der jetzt aber sein Ziel nicht erreichen wird.

„Wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben", sage ich, „gib mir bitte den Zettel."

Sobald ich den kleinen zusammengefalteten Zettel habe, gehe ich zurück ans Pult und mache mich daran ihn auseinander zu falten. Die Klasse beobachte mich gespannt, weil sie wohl damit rechnet, dass ich den Inhalt laut vorlesen werde.

„Sie sehen heute wieder echt heiß aus, Miss Hill. Dieses Shirt steht Ihnen!
-T"

Mir bleibt die Luft weg und ich muss husten. Das kann doch nicht sein. Mir fällt nur eine Person ein, die das schreiben würde. Ich blicke Tessa an, die ein schiefes Lächeln auf den Lippen hat und mir zu zwinkert. Muss das wirklich sein, denke ich mir und zerknülle den Zettel. Dieses Mädchen treibt es wirklich zu weit. Was wenn jemand den Zettel gelesen hätte? Den Rest der Stunde sitze ich auf dem Stuhl hinter dem Pult und gebe vor, dass ich Klassenarbeiten korrigiere. Tessa bringt mich um den Verstand. Ich bin noch am überlegen, ob ich sie darauf ansprechen soll oder nicht.

Sobald es klingelt packe ich meine Sachen zusammen und gebe den Rest der Aufgaben als Hausaufgabe auf. Die wenigstens sind darüber begeistert, aber das kümmert mich gerade herzlich wenig. Ich stopfe den Zettel in meine Hosentasche, um zu verhindern, dass ihn doch noch jemand findet und verlasse den Saal. Irgendjemand wird heute schon noch absperren. Ich möchte einfach nur noch nachhause. Diese Achtzehnjährige macht es mir wirklich nicht leicht einen kühlen Kopf während des Unterrichts zu bewahren. Sie legt es regelrecht darauf an mich vorzuführen. Damit wird ab jetzt Schluss sein. So leicht werde ich es ihr nicht mehr machen, schwöre ich mir und fahre nach Hause.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt