~20~

4K 193 3
                                    

Lydia Hill

Ich singe zu der Musik aus der Anlage mit, während ich den Pinsel über die Leinwand wandern lasse. Ich war noch nie jemand, der besonders gut zeichnen konnte, aber darum geht es für mich beim Malen auch gar nicht. Es entspannt mich einfach. Ich bin keine Künstlerin und möchte auch keine werden. Es ist bloß ein Hobby. Außerdem muss kann Kunst auch vollkommen gegenstandslos sein. Sie muss nicht immer Sinn ergeben, genauso wenig, wie das Leben immer Sinn ergeben muss. Die Türklingel reißt mich aus meinen Gedanken und bringt mich zurück ins hier und jetzt. Ich lege den Pinsel weg und gehe an die Tür, um sie zu öffnen. Natürlich erhoffe ich mir, dass Tessa ist, aber bei ihr kann man nie sicher sein, was sie als nächstes vorhat.

„Hey", begrüßt sie mich.

„Komm doch rein", sage ich und umarme sie kurz.

Sie ist wirklich gekommen. Jetzt wird das Grinsen auf meinem Gesicht noch breiter. Bestimmt sehe ich total dämlich aus.

„Ich wusste gar nicht, dass du malst", stellt Tessa fest.

„Es gibt so einiges, dass du nicht über mich weißt."

Ich zucke mit den Schultern und sehe an ihr herunter. Sie trägt dieselbe schwarze Jacke, die sie immer trägt. Eine schwarze Jeans und ein graues T-Shirt. Farben scheinen nicht so ihr Ding zu sein. Ich habe sie noch nie etwas buntes tragen sehen.

Tessa legt ihre Hand auf meine Wange und streicht mit ihrem Daumen über meine Haut.

„Du hast da Farbe im Gesicht", sagt sie trocken und lässt ihre Hand sinken.

„Oh Mist", fluche ich und spüre, wie meine Wangen heiß werden.

Auch sonst sehe ich nicht besonders aus. Ich trage ein altes viel zu weites Hemd, dass voller Farbkleckse ist, eine Boyfriendjeans, bin barfuß und meine Haare habe ich einfach irgendwie zusammen gebunden, damit sie mich nicht stören.

„Ist nicht schlimm. Sie irgendwie süß aus", meint sie lachend. „Mir gefällt es zwar besser, wenn du sexy aussiehst, aber was soll's."

Ich schüttele den Kopf und weiß nicht was ich darauf erwidern soll. Es passiert oft, dass ich keine Worte finde, wenn Tessa in meiner Nähe ist. Mein Gehirn verfällt dann regelmäßig in einen Standbymodus. Sie hingegen scheint immer einen frechen Spruch auf Lager zu haben.

„Tut mir echt leid, falls es wirklich so schlimm für dich in Französisch war", entschuldige ich mich bei ihr.

„Schon vergessen", meint sie.

Tessa zieht ihre Jacke aus und wirft sie achtlos auf das Sofa. Ich will sie im Moment einfach nur küssen und ihre Nähe spüren, aber ich traue mich noch nicht so recht. Ihr muss aufgefallen sein, dass ich sie angestarrt habe.

„Was ist?", will sie wissen.

„Ähm.. nichts", sage ich hastig und beiße mir auf die Unterlippe.

Tessa kommt näher und legt ihren Daumen auf meine Lippe.

„Hör auf dir ständig auf die Lippe zu beißen. Wenn schon, will ich das gefälligst machen", murmelt sie und küsst mich im nächsten Moment.

Ich schlinge meine Arme um ihre Hüfte, und ziehe sie näher an mich heran. Ohne Vorwarnung beißt Tessa mir zärtlich auf die Unterlippe, was mir ein leises Stöhnen entlockt. Wenn sie so weiter macht, landen wir gleich in meinem Bett und das will ich jetzt noch nicht. Schweren Herzens löse ich mich von ihr.

„Ich hab Pizza im Ofen, falls du Hunger hast", sage ich.

„Zu Pizza sage ich doch nicht nein", nuschelt sie und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Gut", ich eile zum Backofen, um ihn anzumachen.

Tessa beobachtet mich fasziniert. Ich kann es immer noch nicht so recht realisieren, dass sie hier ist. Hier in meiner Wohnung. Ich gehe wirklich zu weit, aber ich kann nicht anders. Ich will sie in meiner Nähe haben. Es fühlt sich so richtig an. Auf die Stimme der Vernunft höre ich nicht mehr. Im Moment mache ich mir keine Gedanken darüber, was für Konsequenzen das ganze für mich haben könnte.

„Ich gehe mich schnell umziehen", sage ich zu Tessa und verschwinde in meinem Schlafzimmer.

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sitzt Tessa auf dem Sofa und blättert in dem Stapel Aufsätze herum, die ich dort habe liegen lassen.

„Der hier ist echt scheiße", meint sie und hält ein Heft hoch.

Ich nehme ihr den Aufsatz weg und lege ihn zurück zu den anderen.

„Die gehen dich nichts an."

Ich setze mich neben sie und fange an sie zu küssen. Tessa drückt mich auf das Sofa und lehnt sich über mich. Ihr Küsse schmecken süß. Ich schließe meine Augen und gebe mich ihr hin. Irgendwann piepst der Backofen.

„Was ist das denn?", fragt Tessa mich genervt.

„Der Backofen. Ich habe den Timer eingestellt, damit die Pizza nicht verbrennt", erkläre ich ihr.

„Das ist echt spießig", meint Tessa und setzt sich auf.

Ich lasse sie vor sich hin motzen und gehe die Pizza aus dem Ofen holen. Tessa steht auf und setzt sich an den Tisch auf dem schon zwei Teller stehen. Ich hole zwei Weingläser aus dem Schrank und stelle sie ebenfalls auf den Tisch.

„Willst du Rotwein oder weißen?", frage ich sie.

„Ich trinke keinen Alkohol."

„Tatsächlich?"

Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin fest davon ausgegangen, dass Tessa am Wochenende auf Partys trinkt und das nicht gerade wenig.

„Ja."

„Und wieso nicht?", hake ich interessehalber nach.

„Einfach so", antwortet sie.

Ich nehme es so hin und schenke ihr ein Glas Wasser ein. Tessa überrascht mich immer wieder. Die Tatsache das sie kein Handy hat, war schon eine Überraschung für mich. Sie scheint nicht wie andere in ihrem Alter zu sein, was mir gefällt. Vielleicht ist es gerade das, was sie so anziehend für mich macht. Ich weiß es nicht.

Wenig später sitzen wir am Tisch und ich plappere vor mich hin. Tessa isst schweigend und hört mir mehr oder weniger zu. Das bin ich schon aus dem Unterricht gewöhnt. Anscheinend kann sie sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren. Es macht sogar ein wenig den Eindruck auf mich, als würde ich sie langweilen.

„Rede ich zu viel?", frage ich unsicher nach.

„Nein ist schon okay. Ich höre gerne zu", versichert sie mir.

Vielleicht täusche ich mich auch einfach und es wirkt nur so, als würde sie mir nicht zuhören. Schließlich kenne ich sie nicht besonders gut. Ich weiß kaum etwas über sie. Leider gibt sie mir das Gefühl, dass sie nicht über ihr Privatleben sprechen möchte, was mich etwas verletzt, aber ich sage nichts. Wenn sie bereit dazu ist, wird sie mir alles erzählen.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt