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Lydia Hill

Habe ich das wirklich getan? Ich kann es kaum fassen. Ich hätte das niemals tun dürfen. Sie ist meine Schülerin. Wie hat Tessa Davis es nie geschafft mich so dermaßen in ihren Bann zu ziehen. Ich kann nicht aufhören an sie zu denken. An ihre Lippen auf meinen, ihre Stimme, an ihr freches Grinsen und ihre blauen Augen. So ein Mist. Ich sollte nicht so empfinden. Sie hat mich komplett durcheinander gebracht. Es ist so weit gekommen, dass ich es zugelassen habe, dass wir Sex hatten. Dafür könnte ich meinen Job verlieren. Nervös kaue ich auf meiner Lippe herum bis sie blutet, aber selbst dann höre ich nicht auf.

Ich habe das Gefühl, dass jeder mir ansieht, dass ich etwas falsches getan habe. Etwas falsches, das sich so richtig angefühlt hat in dem Moment. Ich habe Angst, dass Mr Marin mich darauf anspricht, was mit mir nicht stimmt. Wieso ich so zerstreut und durcheinander bin. Ich kann ihm den Grund schließlich nicht sagen. Tessa Davis. Bisher habe ich es mich nicht getraut nach ihr Ausschau zu halten. Was soll ich denn tun? Sie anlächeln und so behandeln, als wäre das alles nicht passiert? Das kann ich nicht. Ich bin eine grauenvolle Schauspielerin. Also werde ich wohl so weiter machen müssen, wie bisher.

Heute morgen habe ich verschlafen, weil ich vergessen habe meinen Wecker zu stellen. Mir ist gerade noch genug Zeit geblieben, um mir etwas anzuziehen und die Zähne zu putzen. Meinen Schal konnte ich nirgends finden. Ich weiß einfach nicht mehr, wo ich ihn hingelegt habe.

Schweigend und in Gedanken tappe ich neben Mr Marin her, der zu jedem Ausstellungsstück etwas zu sagen hat. Er unterrichtet Geographie und Geschichte. Ich habe von all dem keine Ahnung. Diese Fächer haben mich in der Schule nicht besonders interessiert. Mir lagen Sprachen schon immer am besten.

Seufzend sehe ich auf meine Uhr und muss feststellen, dass die eine Stunde schon fast vorbei ist. Ich mache meinen Kollegen darauf aufmerksam, der etwas enttäuscht darüber wirkt, da wir uns noch nicht alles ansehen konnten. Trotzdem müssen wir gehen, da wir um halb eins mit einem Ranger verabredet sind, der uns durch den Nationalpark führen wird. Schweren Herzen teilt Mr Marin der Gruppe mit, dass die Zeit um ist und wir zurück in die Empfangshalle müssen. Keiner der Schüler scheint darüber wirklich traurig zu sein. Einige wirken sogar ziemlich erleichtert.

Zurück am Treffpunkt warten die anderen Schüler schon auf uns. Sie stehen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich. Ich wage es meinen Blick über die Schüler wandern zu lassen und bleibe an Tessa hängen. Sie redet mit Clarissa und Simon. Plötzlich fällt mir auf, dass sie einen Schal trägt, der mich ziemlich an meinen erinnert. Es muss meiner sein.Deswegen habe ich ihn heute früh nicht gefunden. Sie hat ihn einfach mitgenommen, als sie gegangen ist. Jetzt bekomme ich Angst, dass es wirklich jemand merken könnte. Wie kann sie nur? Tessa hat bestimmt wieder nicht darüber nachgedacht. Ich glaube das tut sie nie. Sie liebt das Risiko.

„Na dann geht es jetzt auf zum Nationalpark", verkünde ich und erreiche somit die Aufmerksamkeit der meisten.

Auf den Teil der Klassenfahrt freue ich mich am meisten. Die ganze unberührte Natur und diese Menschenleere. Zum Glück habe ich heute morgen daran gedacht meine Kamera einzupacken. Mein Kollege zählt die Schüler nach, um zu verhindern, dass wir jemand im Museum vergessen.

„Falls jemand aufs Klo muss, sollte er jetzt noch gehen", rät Mr Marin den Schülern. „Später habt ihr keine Gelegenheit mehr."

Sofort machen sich einige auf den Weg zu den Toiletten und die Gruppe wird kleiner. Ich sehe vorsichtig in die Richtung, wo Tessa eben noch stand, aber sie ist nicht mehr da. Ich muss aufhören nach ihr zu sehen und meinen Schal sollte ich wohl einfach vergessen. Dann kann sie ihn eben behalten.

„Wir sind schon ein wenig zu spät", sage ich mehr zu mir selbst, als zu meinem Kollegen, als ich auf meine Uhr schaue.

„Was halten Sie davon, wenn ich schon mal mit der ersten Gruppe vorgehe und wir uns dann dort alle treffen", schlägt Mr Marin vor.

Ich würde zwar lieber mit der ersten Gruppe verschwinden in der Tessa nicht ist, aber ich stimme zu. Es würde komisch wirken, wenn ich es nicht täte.

Also bleibe ich erst einmal alleine zurück, was aber nicht lange so bleibt. Die ersten Jungs kommen wieder von der Toilette und wollen sofort wissen, wo der Rest abgeblieben ist. Bald sind alle vollzählig und wir brechen auch auf. Tessa scheint heute keine großen Ambitionen zu haben mit mir sprechen zu wollen, worüber ich einerseits ganz froh bin, andererseits stört es mich auch. Ich würde gerne mit ihr über alles reden. Ich würde sie gerne nochmal so küssen, aber natürlich geht das nicht. Abstand zwischen uns bringen ist das einzige, was im Augenblick vernünftig ist.

Am vereinbarten Treffpunkt warten die anderen schon auf uns und sofort geht es los. Wir laufen durch den Wald auf abgelegen Pfaden und müssen hier und da über Steine klettern. Ich mache unzählige Fotos und einige Schüler bitten mich von sich Bilder zu machen. Es ist wirklich schön. Für einen Moment lang vergesse ich sogar, dass Tessa auch da ist.

Nach einer Stunde erreichen wir unser Ziel. Einen kleinen malerischen See mitten im Wald. Ein wunderschöner Ort. Der Ranger verkündet, dass wir hier eine halbstündige Pause machen werden, bevor wir auf einem anderen Weg zurück gehen werden.
Ich stelle meinen Rucksack ab und trinke einen Schluck Wasser. Dann esse ich mein Brot und verstaue die Kamera.

„Können wir reden?", höre ich plötzlich Tessa's Stimme neben mir.

Ich blicke sie an und sofort tanzen Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und nicke dann zögerlich.
Wir gehen ein Stück in den Wald, wo wir ungestört und alleine sind.

„Was gibt es?", will ich wissen und versuche so professionell wie möglich zu bleiben.

Ich bin immer noch ihrer Lehrerin. Egal wie sehr ich sie im Moment küssen möchte, ich darf es nicht. Es ist falsch. Falsch. Falsch. Aber ich höre nicht auf die Stimme in meinem Kopf, als Tessa mich an sich zieht. Ich schlinge meine Arme um ihren Hals und lege meine Lippen vorsichtig auf ihre. Der Kuss ist keineswegs so leidenschaftlich, wie die der vergangenen Nacht, aber er löst trotzdem ein Feuerwerk der Gefühle in mir aus. Schnell beende ich den Kuss und trete einen Schritt zurück.

„Wir dürfen das nicht tun", sage ich leise.

„Mir sind Regeln egal", meint Tessa und macht einen Schritt auf mich zu.

„Mir aber nicht und deswegen muss das aufhören."

Wieso habe ich mich auch nur darauf eingelassen. Es hätte nie soweit kommen dürfen.

„Du hast doch nur Angst. Du solltest wirklich mal lockerer werden, Lydia."

„Das kann mich meinen Job kosten. Natürlich habe ich da Angst", kläre ich sie auf.

„Es wird aber niemand herausfinden", murmelt Tessa und legt ihre Hand auf meine Wange.

„Ich weiß doch nicht mal, wie ernst du es meinst, Tessa. Es macht auf mich den Eindruck, als wäre die alles ziemlich egal oder als wäre es ein Spiel für dich."

„Du glaubst mir bestimmt nicht, aber ich meine es sehr ernst. Das ist kein Spiel für mich."

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, aber ich komme ohnehin nicht dazu etwas zu sagen, da Tessa mich einfach küsst. So einfach, wie sie es sich vorstellt, ist die ganze Sache aber bei weitem nicht.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt