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Lydia Hill

Gestern ist Tessa nicht im Unterricht erschienen, was mir ganz recht war. Entweder hat sie bloß meine Stunde nicht besucht oder sie war den ganzen Tag nicht da. Ich habe nicht nachgefragt. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass sie heute nicht erscheinen wird und somit nicht an der Klassenfahrt teilnimmt. Fünf Tage in denen ich ihr nicht wirklich aus dem Weg gehen kann, sind eindeutig zu viel.

Ich stehe mit einem Klemmbrett am Bus und hake die Namen der Schüler ab, die bereits da sind. Einige waren schon vor Mr Marin und mir da. Es ist noch dämmrig und ziemlich kühl. Ich zupfe an meinem Schal herum, um ihn enger um meinen Hals zu ziehen. Zum Glück regnet es gerade nicht.

„Simon Thompson", sagt ein Junge und tippt mit dem Finger auf seinen Namen auf dem Papier.

„Abgehakt", erwidere ich und mache ein Häkchen hinter seinem Namen.

Das muss ein Schüler aus dem Geographiekurs sein. Viele kommen mir bekannt vor, einige andere gar nicht. Mein Kollege ist schon im Bus und versucht dort für Ruhe zu sorgen. Mr Marin ist über fünfzig, etwas spießig und nimmt alles sehr genau. Er ist nicht gerade einer meiner Lieblingskollegen, aber er ist okay. Es könnte schlimmer sein.

„Hey, Miss Hill."

Vor mir steht Tessa Davis. Sie sieht noch müder aus, als sonst. Was sie nachts wohl immer treibt, dass sie so wenig Schlaf bekommt. Sie grinst mich trotzdem an, auch wenn es irgendwie unecht wirkt. Sie hat sich die Kapuze ihrer schwarzen Jacke über den Kopf gezogen und eine schwarze Jeans mit Löchern an den Knien an.

„Guten Morgen", antworte ich ihr und versuche sie so zu behandeln, wie alle anderen auch.

Leider verschwindet Tessa nicht, nachdem ich ein Haken hinter ihrem Namen gemacht habe. Sie schiebt sich ihre Kapuze vom Kopf und fährt sich mit der Hand durch ihre braunen schulterlangen Haare, die von Natur aus glatt zu sein scheinen. Was will sie denn noch? Sie wird doch nicht schon wieder einen Streit anfangen wollen. Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich mustere sie etwas genauer, wobei mir auffällt, dass sie lediglich einen großen Rucksack dabei hat. Anscheinend muss sie da alle reinbekommen haben, was sie braucht.

„Du kannst ruhig schon in den Bus gehen und dein Gepäck verstauen", sage ich zu ihr.

Tessa nickt und geht dann, bevor sie gänzlich aus meinem Sichtfeld verschwindet, dreht sie sich noch einmal zu mir um und zwinkert mir zu. Sie hat eindeutig nicht vergessen, worüber wir das letzte Mal gesprochen haben. Genauso wenig, wie ich es vergessen habe. Was sie gesagt hat, will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie treibt mich in den Wahnsinn. Tessa lässt einfach nicht locker und legt es immer wieder aufs neue darauf an.

Es dauert noch eine Weile, bis alle ankommen und im Bus Platz nehmen. Ich mochte Klassenfahrten damals als Schüler eigentlich total gerne, aber plötzlich zu den Lehrern zu gehören, die die Verantwortung tragen ist eine andere Sache. Ich kann nur hoffen, dass wir keinen der Schüler verlieren und das niemand stirbt. Das wird anstrengend werden. Mr Marin hat sich bereit erklärt eine kurze Rede zu halten, sobald alle im Bus sitzen. Ich lasse mich auf meinen Platz am Fenster sinken. Mr Marin sitzt neben mir. Er schwafelt einige Minuten vor sich hin, bevor er sich ebenfalls hinsetzt und der Bus los fährt. Sofort fangen einige an zu reden und lautstark zu lachen. Ein paar Jungs fangen an Mr Marin und mich mit Fragen zu löchern. Sie wollen alles mögliche wissen. Ich stehe auf und blicke durch den Bus. Tessa kann ich nirgends entdecken, aber sie muss da sein. Bestimmt schläft sie. Dieses Glück bleibt mir leider vergönnt. Ich muss alle im Auge behalten. Irgendwann geben die meisten Ruhe.

„Wie wollen wir es mit den Zimmern machen?", will Mr Marin von mir wissen.

Um die Zimmerverteilung habe ich mir bisher gar keine Gedanken gemacht. Ich war viel zu sehr mit mir selbst und meinen eigenen Problemen beschäftigt.

„Was schlagen Sie vor?"

„Ich sehe ein Klassenfahrt immer als Chance für die Schüler sich gegenseitig besser kennenzulernen und auch mal andere Mitschüler besser kennenzulernen mit denen man normalerweise nicht so viel zu tun hat."

„Und was bedeutet das für unsere Zimmerverteilung?", will ich wissen.

Manchmal komme ich mir ein wenig dumm vor, weil ich in solchen Dingen keinerlei Erfahrungen habe und ständig nachfragen muss. Ich hoffe Mr Marin nimmt mir das nicht übel.

„Wir sollten die Aufteilung übernehmen. Wenn die Schüler das selbst machen, gibt es meist nur ein riesiges Durcheinander und Streitigkeiten", erklärt er mir geduldig.

„Na gut", sage ich.

Wir beginnen mit den Jungs. Die Zimmer sind alle für vier Leute. Mr Marin kennt die meisten der Schüler schon länger als ich und macht somit das meiste alleine, was ihn aber nicht zu stören scheint. Ich habe das Gefühl, dass es ihm lieber ist, wenn man ihm nicht herein redet.

Da ich jetzt wieder nichts zu tun habe, gehen meine Gedanken ihre eigenen Wege. Ich hätte mir Kreuzworträtsel, Sudoku oder ein Buch mitnehmen sollen. Leider bin ich zuhause nicht auf diese Idee gekommen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt den ganzen Papierkram zusammen zu suchen.

Wieder taucht Tessa Davis in meinen Tagträumen auf. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie wirklich versucht hat mich zu küssen. Sie ist meine Schülerin. Es ist falsch, aber das scheint ihr egal zu sein. Tessa handelt einfach ohne sich über die Konsequenzen bewusst zu sein. Und ich habe es fast zugelassen, dass sie mich küsst. Im letzten Moment habe ich es noch verhindert, aber diese Sache hat mich total durcheinander gebracht und lässt mich nicht mehr los. Ich frage mich ständig, wie es gewesen wäre, wenn ich dem Kuss einfach erwidert hätte. Wie es sich angefühlt hätte. Verdammt ich sollte so etwas erst gar nicht denken. Ich darf daran nicht denken. Tessa mag achtzehn sein, aber sie ist trotzdem eine meiner Schülerinnen und ich darf sie nicht anders behandeln, als alle anderen.

„Können Sie mal drüber lesen und mir sagen, ob es so okay für Sie ist?", bittet Mr Marin mich und reicht mir seine Ausfertigung der Zimmereinteilung.

„Natürlich", sage ich hastig und bin froh etwas zu tun zu haben.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt