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„Miss Hill ist ja doch da", stellt Clarissa überrascht fest, als diese in den Saal kommt.

„Wieso sollte sie nicht da sein?", frage ich sie.

„Sam hatte vorhin Französisch bei ihr und da ist sie nicht aufgetaucht", erzählt sie mir.

Wie es aussieht hat Lydia ihre Stunde ebenfalls sausen lassen. Wahrscheinlich wollte sie sich die vielen Fragen ersparen. Ich habe keine Ahnung.

„Keine Ahnung. Ich bin direkt gegangen, nachdem ich ihr helfen musste", lüge ich.

Ich kann ihr ja schlecht sagen, was wirklich passiert ist. Das würde sie mir niemals glauben und es geht sie auch nichts an. Wir mögen so etwas wie Freunde sein, aber ich bezweifle, dass Clarissa mir alles über sich erzählt und selbst wenn, heißt das nicht gleich, dass ich es auch tun muss.

Lydia sieht sich kurz im Klassenzimmer um und geht dann die Anwesenheit durch. Als mein Namen kommt, zwinkere ich ihr zu, wodurch sie etwas rot anläuft. Es gefällt mir, dass ich sie durch so eine banale Geste in Verlegenheit bringen kann. Sie ist mir total verfallen.

„Da alle da sind, machen wir heute eine Gruppenarbeit. Ihr werdet zu viert zusammen arbeiten und jede Gruppe wird einen Text bekommen, den sie interpretieren müssen und dann später teilt ihr eure Ergebnisse der Klasse mit."

Ich stöhne laut hörbar genervt auf. Ich hasse Gruppenarbeiten. Das meiste, das ich daran hasse ist die Gruppe an sich.

„Wir werden einfach durchzählen, damit nicht immer die gleichen zusammen arbeiten", meint Miss Hill.

Gesagt getan. Ich lande in einer Gruppe mit Mary, Kyla und Léon. Mit keinem der drei habe ich bisher groß gesprochen.
Unsere Lehrerin verteilt die Arbeitsblätter und alle fangen an aufmerksam ihre Texte durchzulesen. Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück.

„Willst du vielleicht auch was machen?", fordert Léon mich auf.

„Ich werde es später einfach vortragen. Damit ist das Problem für alle gelöst, da es ja bestimmt sonst niemand vor der Klasse vortragen will von euch", sage ich.

Kyla und Mary nicken zustimmend und somit ist die Sache gegessen. Ich habe keine Probleme damit später vor der gesamten Klasse zu stehen und vor mich hin zu labern. Lydia hat nicht gesagt, dass es auf Französisch sein muss von daher ist es für mich keine große Sache. Die anderen bearbeiten den Text während ich meine Lehrerin beobachte. Miss Hill geht durch die Reihen und beantwortet hier und da Fragen oder gibt ein paar Tipps. Sie sieht unheimlich sexy aus in ihrer Skinnyjeans, die ihren Arsch perfekt zu Geltung bringt. Ihr Pullover ist etwas langweilig, aber gut. Ihre Haare sind offen und fallen ihr in leichten Wellen über die Schultern. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und merke gar nicht, dass Lydia irgendwann hinter mir steht.

Sie schnipst mit ihren Fingern vor meinem Gesicht herum. „Nicht vor dich hin träumen, Tessa."

Ich sehe sie finster an, aber Lydia scheint bester Laune zu sein und lässt sich davon nicht aus der Fassung bringen. Sie geht einfach weiter und beantwortet eine Frage von Katie. Kopfschüttelnd wende ich mich dem Text zu und tue so, als würde ich ihn lesen. Natürlich tue ich das nicht. Ich verstehe kein bisschen von dem Mist. Französisch ist einfach nichts für mich. Wie kann einem dieser Kauderwelsch bloß interessieren?

„Wie weit seid ihr?", fragt Miss Hill irgendwann in die Runde.

Sie steht vorne am Lehrerpult und hat in der Zwischenzeit die Tafel gewischt. Die meisten betonen, dass sie fertig sind. Lydia fordert uns auf zurück an unsere ursprünglichen Plätze zu gehen.

„Dann brauche ich jemand, der in Stichworten an der Tafel die wichtigsten Dinge notiert", meint sie.

Sofort melden sich einige, aber aus irgendeinem Grund, ruft sie mich auf. Will sie mich heute etwa ärgern.
Auch wenn ich eigentlich nicht will, raffe ich mich auf und gehe an die Tafel. Lydia reicht mir ein Stück Kreide, wobei sich unsere Finger berühren, was für mich aber nichts besonders ist.

„Und was muss ich machen?", frage ich sie während ich mir die Ärmel meiner Jacke ein Stück nach oben schiebe.

„Du musst einfach aufschreiben, was wir am Ende als wichtigstes zusammenfassen", erklärt Miss Hill mir.

Na das werde ich wohl schaffen. Ich lehne mich an die Tafel und verschränke die Arme vor der Brust. Clarissa ist die erste, die vorträgt, was ihre Gruppe herausgefunden hat. Nachdem sie fertig mit reden ist, muss ich ein paar Dinge an die Tafel kritzeln. Meine Schrift ist nicht gerade dafür gemacht an der Tafel zu schreiben. Einige beschweren sich, dass sie es nicht lesen können, worauf hin Miss Hill jemand anderes bittet meine Aufgabe zu übernehmen. Ich bin erlöst.
Der Rest der Stunde ist super langweilig. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht einzuschlafen.
Als es endlich klingelt, packe ich meinen Kram zusammen und gehe ans Lehrerpult.

„Musste das vorhin echt sein?", will ich von Lydia wissen.

„Da ist doch nichts dabei", erwidert sie.

„Du...", ich beiße mir auf die Zunge, „Sie wissen ganz genau, dass ich so eine Schrift habe und das ich von französisch keine Ahnung habe."

Ich beklage mich ein wenig, weil das etwas ist, was ich ziemlich gut kann. Darin unnötige Diskussionen zu führen bin ich richtig gut. Am liebsten diskutiere ich mit Mr Lee, weil ich da am Ende immer gewinne.

„Es schadet dir nicht mal etwas mitzuarbeiten", meint sie und schiebt mir einen Zettel zu.

„Das bezweifele ich", murmele ich und nehme den Zettel und lasse ihn in meiner Jackentasche verschwinden.

Für Lydia mag das ganze hier wie ein Schauspiel wirken, aber ich finde es wirklich scheiße von ihr, dass sie das gemacht hat.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlasse ich den Saal und gehe zu meinem Spind. Ich dränge mich an Mengen von Schülern vorbei und stoße beinahe mit Simon zusammen.

„Wo warst du denn in Mathe?", erkundigt er sich neugierig.

„Hatte keine Lust", antworte ich und öffne meinen Spind.

Die Bücher aus meinem Rucksack werde ich in das Schließfach. Zuhause kann ich damit nichts anfangen. Simon verabschiedet sich von mir. Ich greife in meine Jackentasche und hole den zusammengefalteten Zettel heraus. Langsam öffne ich ihn und lese die Nachricht darauf.

Komm' heute Abend bei mir vorbei, wenn du Lust hast. Du kannst gerne über das Wochenende bleiben, wenn du möchtest!

Darunter hat sie noch ihre Adresse geschrieben, aber ich weiß ja schon wo sie wohnt. Grinsend lasse ich den Zettel wieder in meiner Tasche verschwinden. Plötzlich scheint das Wochenende nicht mehr so scheiße zu werden, wie ich es erwartet habe. Normalerweise hätte ich die Zeit zuhause verbracht, wäre einkaufen gegangen und hätte mich gelangweilt, da Ash tatsächlich ein Date hat, Jordan mit seiner Familie wegfährt und Rick, der verbringt seine Zeit mit seiner Bitch. Da hat Lydia mir das Wochenende gerettet.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt