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Heute ist der 24. Dezember. Ich würde am liebsten ans andere Ende der Welt verschwinden, so sehr hasse ich diesen Tag. Ich habe keine Lust mit meiner Familie heile Welt zu spielen, wo wir alle doch wissen, dass es keine gibt. Meine Familie ist ein totales Wrack. Da gibt es nichts mehr zu retten. Ganz einfach.

Draußen regnet es anstatt zu schneien, wie es das immer in den perfekten Spielfilmen tut. In Filmen regnet es an Weihnachten immer dicke weiße Flocken und es liegt Schnee, aber dass entspricht selten der Realität. Heute ist ein beschissener Tag. Wenn ich könnte, dann würde ich mich in ein Paralleluniversum beamen lassen. Leider geht das nicht. Ich muss aus dem, was ich habe das beste machen oder es zumindest versuchen.

Ich tausche meine Jogginghose gegen eine Jeans und ziehe mir meine Sneaker an. Dazu noch meine Jacke und den Schal, den ich Lydia nie zurück gegeben habe. Irgendwie habe ich vergessen und bin jetzt ganz froh darüber. Ich mag den Schal, auch wenn er weinrot ist. Er ist ein Stück von Lydia, die ich vermisse.

Meine Mom hat nicht gesagt, dass ich heute Abend da sein muss, dann werde ich es auch nicht. Zur Not setze ich mich in ein Café oder eine Bar. Ich will nur nicht alleine mit meiner Mutter zuhause sein. Das wäre eine Katastrophe. Spätestens gegen halb acht würde sie anfangen sich zur Feier des Tages teuren Scotch einzuschenken. All meine Freunde feiern mit ihren Familien und haben keine Zeit für mich. Ich würde da nur stören.

Ich wandere ziellos durch die Straßen Bostens und ohne es zu wollen, lande ich an dem Haus in dem sich Lydias Wohnung befindet. Meine Füße haben mich einfach dorthin getragen. Ich habe eigentlich an nichts gedacht oder es zumindest versucht. Sehne ich mich wirklich so sehr nach ihr, dass ich an Weihnachten plötzlich vor ihrem Haus stehe? Das ist erbärmlich, aber das ist mir egal.

Vielleicht ist sie ja da. Ich würde sie so gerne sehen. Aber ich weiß nicht was ich sagen sollte. Dass ich sie vermisse und es mir leid tut? Das würde nichts an der Situation ändern. Sie ist immer noch meine Lehrerin und kann sich nicht mit mir blicken lassen. Trotzdem fehlt sie mir. Ich beschließe es einfach darauf ankommen zu lassen. Ich habe nichts zu verlieren. Auch wenn ich nicht weiß, ob Lydia mich überhaupt sehen möchte.

Ich klingele, aber niemand macht auf. Mehrmals drücke ich auf die Klingel. Nichts passiert. Bestimmt ist Lydia bei ihren Eltern. Wieso sollte sie Weihnachten auch alleine zuhause verbringen. Ich habe wieder einmal nicht nachgedacht. Da ich nicht weiß was ich machen soll, setzt ich mich auf die Treppe und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.

Ich bin so ein Idiot. Wieso vermassele ich auch immer nur alles. Ich habe viel zu spät gemerkt, dass mir Lydia nicht vollkommen egal ist. Ich habe es erst kapiert, als ich es ruiniert habe. So ist das immer bei mir. Ich muss Dinge erst kaputt machen, bevor ich realisiere, wie viel sie mir eigentlich bedeutet haben. Deswegen bin ich so schlecht in Beziehungen und niemand hält es lange mit mir aus. Irgendwann hat man die Anzahl seiner Chancen verbraucht. Man bekommt nicht endlos viele. So spielt das Leben nicht. Das Leben ist einfach gemein und scheiße.

Plötzlich bleibt ein älterer Herr vor mir stehen. Er sieht mich fragend und etwas mitleidig an, als wäre ich ein ausgesetzter Hund. Irgendwie fühle ich mich sogar ein wenig so. Ich weiß nicht, wo ich wirklich zuhause bin und wo ich hin soll und das auch noch am 24 Dezember. Das ist wirklich traurig.

„Kann ich dir helfen?", fragt er mich.

Ich sehe zu ihm auf. Er wirkt nett. Der Mann ist bestimmt schon über sechzig. Ich habe das Gefühl, dass er mir wirklich helfen möchte, auch wenn er es natürlich nicht kann.

„Ich möchte zu Lydia Hill. Wissen Sie wann sie wieder kommt?"

Natürlich ist das eine dumme Frage. Woher soll er das wissen. Er kennt Lydia vielleicht nicht einmal.

„Ich weiß es nicht, aber komm doch mit rein, dann kannst du im trockenen auf sie warten", bietet er mir an.

„Danke", nuschele ich und folge ihm in den Flur.

Er wohnt im Erdgeschoss und unsere Wege trennen sich bevor er mir weitere Fragen stellen kann.
Ich gehe die Treppen nach oben und bleibe im dritten Stock vor der Tür stehen. Auch hier drücke ich nochmal auf die Klingel, aber wieder passiert nichts. Lydia ist nicht da und ich habe keine Ahnung ob sie heute überhaupt noch einmal auftauchen wird.

Mir kommt eine Idee, aber das sie gut ist bezweifele ich. Meine Ideen sind nie gut. In den meisten Fällen sind sie ziemlich beschissen. In den ganzen Filmen verstecken die Leute ihren Ersatzschlüssel immer unter der Fußmatte oder einem Blumentopf. Wer weiß ob es bei Lydia auch so ist. Falls es nicht dem ist, dann muss ich eben vor der Tür auf sie warten. Ich weiß zwar nicht ob sie es mir übel nehmen würde, aber sie wird schon nicht die Polizei rufen. Wir kennen uns immerhin. Unter der Fußmatte finde ich tatsächlich einen zweiten Schlüssel.

Ich schließe die Tür auf und gehe in die leere Wohnung. Ich schalte das Licht im Wohnzimmer an und ziehe meine Jacke aus. In der Küche mache ich mir einen Tee und schaue in den Kühlschrank, der aber nicht viel her gibt. Lydia hat anfangs zu mir gesagt, dass ich mich wie zuhause bei ihr fühlen soll und das tue ich jetzt auch. Ich mache mir keine Gedanken darüber, was sie davon halten wird. Die letzten Male als ich hier war, sah die Wohnung deutlich ordentlicher aus. In der Küche stapelt sich das Geschirr und über all liegt Zeug in der Wohnung verstreut.

Ich gehe weiter ins Schlafzimmer und sehe mich dort um. Das Bett ist ungemacht. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 18 Uhr. Es regnet immer noch. Wie gerne würde ich mich jetzt in ihr Bett legen. Seufzend tapse ich zurück in die Küche. Dort setze ich mich an den Küchentisch und warte ab.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze und auf sie warte, aber irgendwann beschließe ich mich in Lydias Bett zu legen, da es schon so spät ist. Ich glaube nicht, dass sie heute noch kommen wird. Bestimmt schläft sie bei ihren Eltern.

Silent kissesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt