THREE

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,,I walk alone beside myself
nowhere to go"

THREE: November 1943

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,,Du hast die Wahl zwischen recht trockenem Brot oder einer Kartoffelsuppe - mit Würstchen sogar, wie zuvorkommend. Oder natürlich du wählst beides, wovon ich dir allerdings abraten würde. Dann kannst du morgen das Andere wählen und hast nicht ganz so sehr das Gefühl, jeden Tag das Gleiche zu essen." Helens Stimme triefte vor Ironie, als sie sich am selben Abend durch die Tür von James Barnes schob, das Tablett balancierend. Mittags war sie zu spät gewesen und einer der Wachen war ihr am Küchenfenster um wenige Sekunden zu vor gekommen, doch heute Abend hatte sie es wieder geschafft. 

Sie war froh, dass es für die Essensverteilung und den gleichzeitigen Kontrollbesuch keinen fest zugeteilten Dienst gab. So konnte sie ganz heimlich ihre kleine Schwindelei ausreifen lassen. James sah auf, als sie das Zimmer betrat. Es war, als brachte sie das Licht mit hinein und schloss die Dunkelheit aus, als sie die Tür zu kickte. ,,Das klingt alles sehr verlockend... Ich schätze aber, dass ich dennoch Beides nehmen werde. Weil ich Beides ohne das jeweils Andere ekelhaft finde", gab er amüsiert zurück, doch sein Blick war leer. Verloren. Anders, als heute morgen. Helen bemerkte diese Veränderung sofort, als sie vor ihm stand und das Tablett abstellte. 

Er saß am Tisch und nicht wie sonst auf der Pritsche und spielte mit der einsamen Karte eines Kartenspiels. Während Helen sich noch fragte, woher er die bloß hatte und ob er das ganze Spiel besaß, was durchaus eine nette Abwechslung wäre, zog James nun das Tablett an sich heran. Er war auch stiller als heute morgen. Sein Grinsen erreichte das Blau seiner Iris nicht mehr. Helen ließ sich langsam auf den anderen Stuhl sinken. ,,Was ist los? Was ist passiert?", fragte sie ihn leise, während er mit dem Löffel in dem Eintopf herumstocherte, eines der Würstchen von einer Teller-Seite zur Anderen schob. 

Nun sah er auf. Etwas Glanzloses lag in seinem Blick. Und Helen erkannte Angst. ,,Sie werden mich morgen früh ins Labor führen", meinte er rau und zog seinen Fuß unter dem Tisch hervor, eine Kette klirrte leise. ,,Und ich habe ein neues Anhängsel", fügte er hinzu. Die junge Frau schluckte. Eine Fußfessel. Sie fesselten ihn, sie legten ihn in Ketten. Reichte es denn nicht, ihn hier einzusperren?! Nun wurde eine Flucht noch viel unwahrscheinlicher. Dass er bereits morgen früh ins Labor geführt werden sollte... Verdammt, sie dachte, sie hätten mehr Zeit. Nur ein wenig mehr. Dann hätte sie ihm sicher helfen können. Hilfe, die weit über Essen und Verbände hinaus ging. Die brauchte er. Sofort. 

Wieder war er da. Der feste Kloß in ihrem Hals. 

,,Was meinst du, werden sie tun?", fragte sie heiser, ihre Stimme klang weinerlich. Und das überraschte sie. Hatte sie ihn etwa schon so sehr ins Herz geschlossen? Sie wollte nicht auch seine Schreie hören müssen. Sie wusste, sie würde sie erkennen. Sie würde die tiefe, raue Stimme darin erkennen und ihm zu ordnen können, ganz gleich wie wenig sie bis jetzt gesprochen hatten. Ganz gleich, dass sie sich gerade mal zweiundzwanzig Stunden lang kannten. ,,Ich weiß es nicht... Sicherlich werden sie fürs erste mein Blut anzapfen. Und meinen Verstand. Sie werden mich testen, da bin ich mir sicher", antwortete er ihr. 

Helen kämpfte mit den Tränen. ,,Das heißt, wenn ich morgen Abend komme und du bist nicht hier...", setzte sie heiser an und er senkte den Blick auf die Suppe, die sicherlich mittlerweile kalt war und vollkommen unberührt vor ihm stand. ,,Dann hat es entweder geklappt, ist gescheitert - oder sie sind noch nicht soweit, wie wir denken", murmelte er und Helen versuchte, ihre panische Atmung zu normalisieren. Wieso tat ihr Vater das? Wieso unterstützte Dad diese kranke Sekte nur? 

,,Ich will nicht, dass sie dir das antun. Ich wollte dir doch helfen...", flüsterte sie und er sah mit einem schwachen Lächeln auf. ,,Ich bin dir für jede Minute Licht in der Dunkelheit dankbar, Helen", antwortete er und sie streckte seine Hand nach ihm aus, berührte seine Fingerspitzen. Er hatte den Löffel weg gelegt und das Tablett weg geschoben. Nun lag seine Hand offen auf dem Tisch. ,,Wann werden sie dich holen?", fragte sie und James räusperte sich. Er wollte das Zittern in seiner Stimme unterdrücken, verbergen, doch Helen bemerkte es trotzdem. ,,Nach dem Frühstück", murmelte er und sie rückte auf ihrem Stuhl umher. 

,,Ich werde morgen früh kommen. Ich werde es dir wie heute auch, um kurz vor sieben bringen", flüsterte sie. Sie wusste nicht, wieso sie beide so leise sprachen. Vermutlich weil mehr Kraft in ihren Stimmen auch mehr offensichtliche Verzweiflung bedeutet hätten. Er lächelte nur schwach. Nun wirkte er wieder gebrochen. Die Schultern eingefallen, den Kopf gesenkt. Tiefe, dunkelblaue Schatten lagen unter seinen Augen. Mit jeder Stunde schien er blasser zu werden. 

Helen warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und schluckte. Sie hatte nicht mehr lange, bis sie zurück musste. ,,James?", fragte sie ihn leise und er sah auf. So viel Furcht in seinem Blick... Helen war sich sicher, selbst noch nie solch große Angst verspürt zu haben. Er tat ihr so leid, sicherlich konnte sie sich wohl kaum ausmalen, was er durchmachte. Sie konnte rein gar nichts tun. Und das ließ ihre Kehle ganz trocken werden. Wie raues Sandpapier fühlte sie sich an, wann immer Helen schluckte. 

,,Pass auf dich auf", setzte sie rau nach und er nickte leicht, ehe er an einer silbernen Kette zog, einen Anhänger unter seinem Pullover hervorholte und sich das Ganze über den Kopf zog. Er legte die Halskette in ihre Handfläche und schloss ihre Finger darum. ,,Achtest du für mich darauf? Ich will nicht, dass sie mir das letzte Stück Heimat nehmen", flüsterte er leise und sie nickte hastig. ,,Ich werde darauf achten, ich verspreche es dir", murmelte sie, sah erneut auf ihr Uhr. Es war Zeit zu gehen. Und das verpasste ihr einen gewaltigen Stich in die Brust, welchen sie nicht ganz definieren konnte. Aber es schmerzte. 

Es schmerzte diesen gebrochenen Mann hier zurück zu lassen, wissend, dass sie sein Schicksal nicht abwenden konnte. Er hätte ihr ein echter Freund werden können. Ein Freund, welcher mit ihr seine Pflaume geteilt hatte. Sie war froh, sein ehrliches Lächeln wenigstens heute morgen ein einziges Mal kennengelernt zu haben. ,,Ich muss zurück", wisperte sie und erhob sich niedergeschlagen von dem Stuhl. Er nickte und tat es ihr nach. Die eiserne Fessel schleifte unheilverkündend über den Steinboden, als er auf sie zu trat. 

,,Bis morgen?", fragte sie ihn und es schmerzte, wie unsicher es doch klang. Würde sie ihn wirklich wiedersehen? Oder würde dieses Zimmer morgen früh doch bereits leer sein, wenn sie mit dem Tablett eintraf? ,,Bis zum Morgengrauen", gab er zurück, zog sie überraschenderweise mit seinem einen Arm in eine sanfte Umarmung. Und Helen genoss es, wie gut er trotz seiner Gefangenschaft roch und wie warm er war. Bis zum Morgengrauen... Es hörte sich nach Hoffnung an, auch wenn in seinem Tonfall nicht viel davon gelegen hatte. 

,,Dein Verband...", merkte sie besorgt an, als er sie los ließ und sie zurück trat, ihre Faust fest um die Kette in ihrer Hand geschlossen. ,,Ich krieg das schon hin. Geh, bevor sie dich hier erwischen", meinte er und sie nickte. Wie gestern sah sie ihn ein letztes Mal an. Diesmal jedoch um vieles trauriger. Dann zog sie die Tür hinter sich zu und verschwand mit dem nächsten Schatten in einem der Korridore, von welchem sie wusste, dass er sie schnell zurück in ihren Flügel führen würde. 

Im künstlichen Licht blickte sie in ihre Handfläche, auf die Kette, die er ihr anvertraut hatte.
Seargant James Buchanan Barnes. 107. Infanterie. 

The Darkness In His Soul [Bucky Barnes]  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt