TEN

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,,You'll never know the top 
till you get too low"

TEN: Januar 1944

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Helen hatte das Gefühl, erneut innerlich zerrissen zu werden. Sie hatte die letzten Ereignisse, die sie angegriffen hatten, schon als mentale Folter empfunden... Jetzt wurde ihr klar, was Folter wirklich war. Das hier. Das hier war die Folter, vor welcher sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Dass sie den einzigen wunden Punkt angreifen würden, den sie noch besaß. ,,Bitte nicht. Das könnt ihr nicht tun! Lasst ihn! Ihr müsst das nicht tun! Bitte!", schrie sie verzweifelt, doch unbarmherzig wurde Bucky in Fesseln gelegt und sein Stuhl zurück gefahren. Bei allen anderen Soldaten hatte Helen voller Gleichgültigkeit an der Seite gestanden, doch das war zu viel. Das war einfach zu viel. 

,,Nein!", schrie sie, versuchte verzweifelt sich von dem stark gebauten Wachen, der sie fest im Griff hielt, loszureißen. ,,Bitte...", setzte sie wimmernd nach. Das hier schien Ironie des Schicksals zu sein. Es trat nun nach ihr. ,,Bitte..." Doch all das Flehen brachte nichts. Helen verstand langsam, dass Hydra genau das auszeichnete, was sie ihren Soldaten so erhaben einimpfte. Unbarmherzigkeit. ,,Bucky...", wimmerte sie und schaffte es doch noch irgendwie, sich loszureißen. Abrupt wirbelte sie herum, holte aus und trat dem Wachen gegen die Schläfe. Stöhnend sackte er zusammen und mit einer abrupten Bewegung hatte Helen zwei Skalpelle von einem der Tische gerissen und stürzte sich auf die beiden Wachen und den Wissenschaftler, die Bucky gefesselt hatten und nun die Maschinen bedienen wollten. 

Sie würde es nicht kampflos mit ansehen, oh nein. Nicht noch einmal. Dem ersten rammte sie das Skalpell in die Bauchdecke, sodass er zusammenbrach. Der Zweite war ein härterer Brocken, welcher Helen grob gegen einen der Schränke schmiss. Sämtliches seines Inhalts zerbrach und Helen wurde das Gefühl nicht los, sich nun das Schulterblatt verstaucht zu haben, als sie sich hochkämpfte. Bucky hatte sich brüllend aus seinen Fesseln gerissen und war blitzschnell auf den Beinen, um den Wachen, welcher den rot leuchtenden Alarmknopf betätigte, nieder zu reißen und seinen Kopf so oft gegen die Metallschränke zu donnern, bis er bewusstlos zu Boden sank. 

Keuchend wirbelte er herum, schnaufend sahen sie einander an. ,,Flieh", stieß Helen hervor, während sie nach Atem rang. ,,Flieh, Bucky!", setzte sie drängender nach und umfasste das noch unbenutzte, zweite Skalpell in ihrer Hand fester, als sie Schritte hören konnte. Doch Bucky stand nur da und starrte sie an. Sie sah ihm an, wie er versuchte, die Lücken in seinem Verstand zu füllen - das Glasige in seinen Augen sagte ihr, dass er es nicht konnte. Er bekam es nicht gefüllt. Er verstand nicht. 

Und dann flog die Tür auf. Bucky wurde zurück auf den Stuhl gerissen und Helen mit Kabelbinder an einen der Tische gefesselt. Sie schrie und weinte. Sie hätte es verhindern können! Wenn sie ihn doch nur vom Fliehen überzeugt bekommen hätte... Bucky verdiente ein anderes Leben, ein Besseres. Er sollte der Mann einer hübschen Frau werden, zwei, wenn nicht gar drei Kinder bekommen und glücklich werden. Gesund bleiben. Aber Helen bemerkte schon, es war Wunschdenken. Geopfert hätte sie alles für ihn, wenn er geflohen wäre. Sie wusste, sicherlich hätte Hydra dann versucht, sie seinen Platz einnehmen zu lassen. Und es war ihr so egal gewesen, als sie die Wachen angegriffen hatte, blind und von ihrer Verzweiflung gelenkt. 

Nun musste sie es mit ansehen. Mit ansehen, wie Hydra ihn ihr wieder nahm. Sie hatte ihn gesehen. Er war wieder da gewesen, Bucky. Hätte sie doch nur länger auf ihn einreden können. Wie verrückt zerrte sie an den Fesseln, die scharfkantigen Kabelbinder zerschnitten ihre Handgelenke und hinterließen ihre Haut blutig. Doch sie bemerkte es nicht einmal. Und dann begann es. Nachdem er das Mundstück zwischen die Zähne geschoben bekommen hatte, ermordeten sie James Buchanan Barnes ein weiteres Mal. 

Und er schrie, als die Gehirnwäsche begann. Als sie ihn erneut "löschten", wie der Professor es nannte. Alles. Seinen Verstand, seine Erinnerungen, jegliche Emotionen. ,,Bucky...", wimmerte Helen und ihre Stimme brach. Er schrie nur noch lauter und diese Schreie bohrten sich wie Messer in ihre Brust. Der Schmerz saß jedoch nicht nur da, sondern überall. Nun gelang es Hydra. Sie löschten jedes Glücksgefühl, jede Hoffnung in Helen aus. Alles was positiv gewesen war, was sich noch gut angefühlt hatte... Es wich nun pechschwarzem Pessimismus. 

Sie wusste nicht, wie lange es andauerte. Sie wusste nur, es tat so unendlich weh. Es war unerträglich. Sie weinte bitterlich um ihn, trauerte um seine Seele, die erneut im Keim erstickt wurde. Sie hatte in seine Augen gesehen - und zum ersten Mal hatte sie darin Bucky gesehen. Zum ersten Mal seit beinahe fünf Wochen.

 Bucky... Oh Bucky... 

Sie war in sich zusammengesunken, als der Vorgang endete. Das leise Summen des Stuhls war zu hören, als er zurück in seine Ursprungsposition fuhr. Helen schluchzte erstickt auf, als sie nun den Kopf hob. Man hatte sie alleine gelassen. Bucky lag noch immer in Fesseln. Doch diesmal hatte man alle potenziellen Waffen entfernt und sie eingeschlossen. Er war verschwitzt, sein Brustkorb zitterte, sobald er einatmete. Sie richtete sich auf. Man hatte ihre Fesseln abgenommen. Was wollten sie damit erreichen? Dass es nur noch mehr weh tat? 

Langsam trat sie auf den Stuhl zu. Noch war er bewusstlos. Ein letztes Mal konnte sie ihn berühren, wenigstens durch sein Haar streichen... Vor ihm blieb sie stehen, um auf ihn hinab zu sehen. Sein Gesicht war noch immer schmerzverzerrt und seine metallenen Finger zuckten. ,,Bucky...", hauchte sie leise und berührte einen Moment seine Wange, strich die Konturen seines Wangenknochens entlang. Erschrocken wich sie zurück, als er die Augen aufriss und sie aus eisigem Blick anstarrte. Da öffnete sich die Tür wieder. Der Professor trat schmunzelnd ein. 

,,Helen, wie schön. Du bist wieder auf den Beinen. Ich will dir unseren neusten Erfolg zeigen, wir steuern ihn nun mehr als bloß nur erfolgreich", meinte er und Helen drohte, zusammen zu brechen. Noch mehr? Noch mehr Schmerz? Sie wusste nicht, wie viel ihr überspanntes Gemüt noch aushalten würde. Er hatte ein Buch in der Hand. Es trug einen roten Band, ein schwarzer Stern prangte darauf. Helen erkannte den Stern seines Arms wieder. Ihr wurde übel. Die Galle kroch ihren Rachen hinauf. 

,,желание." Russisch. Daher kam es also. Sie hatten ihm Codewörter eingeimpft. Helen hatte das Bedürfnis sich die Ohren zu zuhalten, als Bucky erneut zu schreien begann. Die Wörter schienen Schmerz bei ihm auszulösen. Ungerührt sprach der Professor weiter, bis er beim sechsten Wort angelangt war und Bucky nichts mehr von sich gab, nur noch mit leerem Blick auf einen Punkt starrte, der nicht zu existieren schien. Der Professor warf Helen nun einen schadenfrohen Seitenblick zu. Am liebsten hätte sie ihm seine Brille aus dem Gesicht gedroschen, mit blanker Faust. 

,,добросердечный." Helen wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass die Wörter tieferen Sinn hatten. Dass sie auf Buckys Vergangenheit zurückgriffen und eins davon vielleicht sogar auf die Zeit mit ihr hindeuten könnte, denn Buckys leere Augen streiften sie, sein Körper zuckte kurz, dann glitt sein Blick wieder in die Leere. Vier weitere Worte folgten. Elf. Es waren elf, bis der Professor das rote Buch zuschlug. Unheilvoll sprang es Helen schier ins Gesicht, dieses Rot. Von nun an wusste sie, sie würde diese Farbe hassen.

,,Soldat?"

Die Stimme des Professors war schon schneidend, doch die von Bucky sehr viel schneidender. So schneidend, dass es Helen eiskalt den Rücken hinunter lief, als sie das Nichts in seiner Stimme hörte. 

,,Erwarte Befehle." 

The Darkness In His Soul [Bucky Barnes]  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt