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Alexander

Die Sonne versinkt langsam hinter dem Horizont. Felix und ich sitzen etwas abseits vom Dorf auf einem Laken, das wir aus der Schlafhütte geklaut haben. Er hält ausnahmsweise mal die Klappe. Es ist verdammt schwierig ihn los zu werden. Ich kenne ihn seit einem Tag, habe aber das Gefühl über seine ganze Lebensgeschichte Bescheid zu wissen. Ironischer Weise hasst er es, wenn Leute viel reden.

Ich wusste ja, das Han, wie Gwen gesagt hat, eine große Klappe hat, aber ich habe echt nicht erwartet, dass gerade sie Vorschlägt, dass wir die Aufgaben machen.
Warum sollte uns jemand hier her bringen, nur damit wir Aufgaben machen?

Felix beginnt leise zu schnarchen. Ich sehe ihn an und lächele sanft. Er ist süß, irgendwie. Es ist cool, dass er auf mich steht und nicht versucht, es zu verbergen. Ich bin nicht schwul oder auf ein andere Weise nicht hetero, da bin ich mir ziemlich sicher.
Kenn ich eigentlich jemanden, der es ist? Ja, klar, Felix, auch wenn ich sein genaues Label nicht kenne. Gwen ist pan, sie...

Ich springe erschrocken auf. Diese Erkenntnis hat mich getroffen wie das eiskalte Wasser in dem Bergsee, an dem ich schön öfters in den Ferien war: Gwen, Chris und Paul sind gleichzeitig Verschwunden!
„Alex? Alles okay?", fragt Felix verschlafen.
„Ja, was? Nein! Meine Brüder sind verschwunden, mit ihnen noch viele andere, die ich kenne. Darunter auch Hans Schwester, weißt du, die kleine, die dich kannte, Gwen. Sie und die Freundin von meinem Bruder Chris und noch viele andere. Alle gleichzeitig! Und jetzt ist Han hier!"
„Und?"
„Das ist der Zusammenhang!"
„Was für ein Zusammenhang?"
Ich raufe mir die Haare.
"Niemand hier kennt irgendjemanden, aber ich kenne Han. Wieso? Unsere Geschwister sind zusammen verschwunden."
"Ich kenne Sina."
"Lebt ihr nahe beieinander?", frage ich. "Seid ihr in der realen Welt auch Freunde? Kennt ihr euch auf eine andere Weise als übers Internet?"
Er schüttelt den Kopf. "Ja. Sie ist meine Freundin. Wir haben ein paar Videos zusammen gemacht."
Ich überlege kurz. "Aber kennst du jemanden, der verschwunden ist?"
Felix runzelt die Stirn. "Nein. Naja, ich habe meine Tante seit Jahren nicht mehr gesehen, aber sie und meine Mutter stehen sich nicht besonders nahe."
"Hm."
"Was ist deine Theorie?", fragt er.
"Jeder hier kennt jemanden, der etwas mit den Tests zu tun hat."
"Das klingt logisch."
"Los, komm! Wir müssen es den anderen erzählen!"
"Alex, Alex!" Er hält mich am Arm fest, als ich schon loslaufen will. "Die schlafen alle, und ich denke, du solltest das selbe tun."

"Alex", flüstert eine Stimme direkt an meinem Ohr. "Alex."
Ich stöhne leise.
"Wach auf."
Ich blinzele.
"Guten Morgen, Sonnenschein", sagt Felix. Felix, neben dem ich letzte Nacht geschlafen habe. Felix, auf dessen Brust mein Kopf liegt!!
Ich richte mich schlagartig auf. "Ähm, hallo", sage ich. "Wir sollten zurück ins Dorf gehen. Den anderen sagen, was uns aufgefallen ist."
Ohne auf Felix zu warten laufe ich mit glühenden Wangen und schnellen Schritten davon.

Ich erreiche den Platz mit dem Springbrunnen, mittlerweile mit Felix wieder an meiner Seite. Ziemlich viele Leute halten sich dort auf.
"Komm mit", sagt Felix, nimmt meinen Arm und zieht mich in Richtung eines Tisches, auf dem sich Essen befindet.
Ich winde meinen Arm aus seinem Griff und folge ihm.
"Hi, Alexander", sagt Han, welche hinter dem Tisch steht.
"Hallo", sage ich zu ihr, und zu Felix: "Siehst du, sie kennt meinen Namen."
"Ja, wie auch immer."

Han reicht mir und Felix je ein belegtes Brot und eine leere Tasse aus Metall. Ich sehe sie verwirrt an.
"Im Brunnen ist Trinkwasser", erklärt sie. "Also bitte nicht reinpinkeln, spucken, bluten oder ähnliches."
"Woher weißt du, dass es Trinkwasser ist?", frage ich.
"Von Betty."
"Ah ja. Und woher weiß sie das?"
"Sie hat einen Zettel gefunden, nachdem sie eine Aufgabe gemacht hat."
"Sie hat was?"
"Hey, ihr ist nichts passiert. Sie musste sich lediglich die Haare abrasieren."
Ich öffne den Mund, überlege eine Sekunde und schließe ihn dann wieder.

"Hey!", rufe ich. "Könnt ihr mir mal kurz zuhören?"
Ich bin, wie Han gestern, auf den Rand des Brunnens geklettert. Es wird leiser und einige Gesichter wenden sich zu mir.
"Felix und ich haben herausgefunden, warum wir alle hier sind."
"Mit er und ich meint er sich alleine. Er ist nur bescheiden", sagt Felix und springt zu mir auf den Brunnen.
Ich spüre, wie meine Ohren zu glühen beginnen. "Halt die Klappe", murmele ich. Wieder lauter sage ich: "Die eine Sache, die uns alle verbindet, ist, dass wir alle jemanden kannten, der verschwunden ist. An einem dieser Tests teilgenommen hat, vermute ich. Hans Schwester, meine Brüder und einige meiner Klassenkameraden."
Gemurmel wird laut. Ich kann einige Male Ausrufe von Leuten hören, in deren Umfeld auch jemand verschwunden ist.
"Und hat einer von euch diese Leute je wiedergesehen? Ich für meinen Teil nicht."

"Schön, jetzt wissen wir, warum wir hier sind", sagt ein Junge, ich glaube, er heißt Oliver. "Aber was ist der Punkt?"

"Naja", sage ich, "ich gehe davon aus, dass sie, wenn sie bei diesen Tests mitgemacht haben, tot sind. Die logische Schlussfolgerung daraus ist: Wenn wir die Aufgaben machen, sterben wir."

"Aber Betty hat eine Aufgabe gemacht und ihr geht's gut", ruft Han.

"Eine Aufgabe ist kein Maßstab. Wenn ihr die Aufgaben machen wollt, fein. Ich hab euch gewarnt. Beschwert euch nicht bei mir, wenn ihr drauf geht."

Wieder beginnen alle, durcheinander zu reden. Ein leises Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.

"Ich wusste garnicht, dass du so ein guter Redner bist", murmelt Felix.

"Wie auch?", antworte ich, noch immer Lächelnd. "Wir kennen uns erst seit gestern."

Test 14Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt