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Alexander

Felix erzählt, wie er nach mir suchen wollte und dabei ein gruseliges Haus gefunden hat. Er beschreibt, wie Sina ausgesehen hat und plötzlich fühle ich mich schuldig.

Wenn ich nicht weggelaufen wäre hätte er mich nicht gesucht und dann hätte er Sina nicht so sehen müssen. Andererseits hätten wir sie vielleicht auch garnicht gefunden.

"Es sah aus wie Selbstmord", beendet Felix seine Erzählung.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. "Ich kenne Sina zwar nicht", sage ich, "aber ich denke nicht, dass sich so früh jemand selbst umbringen würde."

"Aber sie...", setzt er an, sprich aber nicht weiter.

"Ich kann mir die Stelle ja mal anschauen", schlage ich vor.

Er nickt dankbar.

"Okay. Du bleibst hier, ich geh hin. Kannst du mir den Weg..."

"Nein", unterbricht er mich, leicht panisch. "Lass mich nicht alleine. Es passieren grauenvolle Dinge, wenn du mich alleine lässt."

Ich lächele ihn beruhigend an. "Ich denke nicht, dass das wahr ist. Du hast fünfzehn Jahre ohne mich überlebt. Sechzehn? Wie alt bist du?"

Er lacht leise auf. "Sechzehn", erwidert er.

"Du siehst jünger aus."

Er schiebt seine Hand in meine. Mein erster Instinkt ist es, meine Hand weg zu ziehen, aber ich lasse sie, wo sie ist.

Es geht hier nicht um mich. Das ist für Felix, rede ich mir ein.

Während wir den Platz verlassen spüre ich, wie Han uns hinterher sieht.

Nach einigen Minuten bekomme ich das Gefühl, dass Felix keine Ahnung hat, wo wir überhaupt hingehen.
Ich sage ihm genau das.

"Ich weiß, dass ich vom See gekommen bin. Ich dachte, vielleicht bist du da." Die Schuld, schon wieder. "Ich erinnere mich nicht genau. Aber ich würde es wieder erkennen."

Ich ziehe meine Hand aus seiner und bleibe stehen. Er sieht mich verdutzt an.

"Felix, es tut mir Leid."

Das scheint ihn noch mehr zu verwirren.

"Es tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin. Wenn du mich nicht gesucht hättest, hättest du Sina nicht so sehen müssen."

Er schüttelt den Kopf. "Es ist nicht deine Schuld, Alexander."

"Doch. Es fühlt sich so an, als..."

"Ich gebe dir nicht die Schuld", sagt er bestimmt. "Es ist okay. Du brauchtest Luft. Ich wollte dich Suchen. Ich habe selbst entschieden, dieses Haus zu betreten. Du bist nicht Schuld."

Ich nicke langsam und gehe weiter. "Danke", murmele ich.

"Wofür?", fragt Felix.

Ich antworte nicht. Ich gehe einfach nur weiter, meinen Blick auf den Boden gerichtet. Felix läuft dicht neben mir, so nah, dass unsere Schultern sich streifen. Er versucht aber nicht wieder, meine Hand zu nehmen. Ich brauche Luft. Er hat Recht. Und er gibt mir diese Luft.

"Hier." Felix deutet auf eine Gasse, die enger und düsterer war als der Rest des Dorfes.

Ich folge ihm bis er vor einem der Häuser stehen bleibt. Die Tür ist nur angelehnt und klappert in einem Luftzug, die Fassade ist rissig. Die Fenster sehen eingeschlagen aus.

Das passt garnicht zum Aussehen des restlichen Dorfes, bemerke ich.

Ich drücke die Tür auf. Der Raum dahinter ist ziemlich klein.

"Da oben", sagt Felix und deutet auf eine Leiter.

"Okay", wispere ich, so leise, dass ich bezweifele, dass er es gehört hat. Ich atme tief durch. "Okay", wiederhole ich, etwas lauter und viel mehr zu mir selbst.

Ich greife nach dem spröden Holz der Leitersprossen und klettere daran herauf.

Warme, staubige Luft füllt meine Lungen. Der Raum ist voller Schmutz und Spinnweben, die Fenster notdürftig vernagelt.

An einem Dachbalken ist, halb im Schatten verborgen, ein Mädchen aufgehängt. Sie trägt Jeans und ein schwarzes T-shirt mit einer kaum lesbaren Aufschrift. Ihr Gesicht ist blutüberströmt.

Ich sehe mich nach einem Stuhl oder einer Kiste um, auf der Sina gestanden haben könnte, aber dort ist nichts.

Das war kein Selbstmord.

Es sieht aus, als wäre sie niedergeschlagen worden.

"Alexander?", fragt Felix von unten. "Was denkst du?"

"Ich brauche mal deine Kamera."

Er gibt sie mir hoch.

"Ansonsten: Beweg dich so wenig wie möglich und fass nichts an. Das hier ist ein Mord."

Ich mache erst ein Foto vom Gesamtbild, dann stelle ich mich auf eine Kiste und fotografiere Sinas Wunden.

Vorsichtig inspiziere ich den Staub. Es sind drei Paar Fußabdrücke zu erkennen und ein größerer Staubfreier Fleck.

"Felix, bist du hier oben hingefallen?", frage ich nach unten.

"Ja. Wieso?"

"Muster im Staub. Welche Schuhgröße hast du?"

"Einundvierzig."

Ich erkenne meine eigenen Abdrücke und Felix etwas kleineren. Die dritten sind zu groß, um Sinas zu sein. Ich mache ein Foto der Abdrücke im Staub und halte meine Hand als Maßstab daneben.

Das bedeutet, dass Sina bereits Tod oder zumindest bewusstlos war, als sie hier hoch gekommen ist. Sonst hätte sie sich gewehrt, und das wäre sichtbar.

Ich klettere die Leiter wieder runter. Felix sieht mich erwartungsvoll an.

"Sina ist nicht da oben gestorben", erkläre ich. "Das Blut kommt von einem Schlag auf ihren Kopf. Das alles ist nur Show. Vielleicht..."

Ich verstumme. Hier ist auch ein größerer Fleck im Staub frei.

Ich deute darauf. "Warst du das?"

Felix schüttelt den Kopf. Ich hocke mich hin, um die Stelle besser sehen zu können.

Eine braune, getrocknete Substanz klebt auf den Holzbrettern. Ich kratze etwas davon ab und probiere es. Ein metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus.

"Blut", stelle ich fest. "Ich nehme an, sie ist hier überrascht worden. Dann würde sie die Leiter hoch getragen, von jemandem, der relativ groß und kräftig ist, und dort aufgehängt."

Felix nickt. "Aber wer...?"

"Ich weiß es nicht." Mein Blick schweift zu der Luke, durch die ich auf den Dachboden sehen kann. "Was wurde mit Alisons Leiche gemacht?"

"Elias hat gesagt, ein paar Leute hätten sie unten am Hügel vergraben."

"Okay." Ich nicke und überlege für einen Moment. "Ich hole Sina hier runter und du gehst und holst die Leute, die Alison begraben haben."

"Bist du sicher, dass das okay ist?", vergewissert sich Felix. "Du weißt wie du das letzte Mal reagiert hast, als du eine Leiche gesehen hast."

"Ich komm schon klar."

"Na gut", stimmt er zögernd zu.

Er legt eine Hand auf meine Schulter und drückt sie kurz, dann läuft er davon.

Ich presse meine Lippen aufeinander und mustere den Raum, achte vor allem auf die oberen Ecken. Dort ist tatsächlich, was ich suche. Kameras. Wir müssen an einen Ort gehen, wo wir nicht beobachtet werden. Dann machen wir einen Plan, wie wir möglichst ungesehen weiter vorgehen. Dann zeige ich ihm den Schlüssel, der so schwer und kalt in meiner Tasche liegt.
Vielleicht.

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-LSK

Test 14Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt