Kapitel 2 - Lucas Schiller

167 17 0
                                    

Es kam mir vor wie eine jugendliche Schwärmerei, die aber niemals in Erfüllung gehen würde. Wie ein Traum, der jedes Mal zerplatzte, wenn ich die Augen aufmachte. Wie ein Gedicht, das immer und immer wieder mit der letzten Zeile endete oder wie eine gute Serie, auf dessen nächste Staffel man ein Jahr warten müsste, wenn man die bereits erschienenen Folgen gesehen hatte. 

Kennt ihr das, wenn man als junger Mensch einen Star anhimmelt, der aber nicht einmal weiß, dass ihr existiert? Der keine Kenntnis von euch genommen hat, weil es Millionen andere Menschen gibt, die ihn anhimmeln?

So fühlt sich meine Beziehung zu Lucas Schiller an.

Nur mit dem Unterschied, das er kein Star ist. Eigentlich ist er der normalste Junge, den es auf der Schule gibt. Seine schwarzen, kurzen Haare fallen kaum auf, sein Kleidungsstil ist gewöhnlich, sein Auftreten stets höflich und sein Lächeln bezaubernd. Und doch ist er wie ein Stern. Er wirkt erreichbar, ich könnte ihn sogar berühren, aber trotzdem ist er fern. Dennoch gibt es eine Sache die ihn besonders macht.

Er ist der einzige Mensch an der Schule, der mich nicht wie Abschaum behandelt.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er nicht weiß, dass ich überhaupt existierte. Bis heute habe ich nicht ein Wort mit ihm gesprochen. Ich bezweifle auch, dass sich das bis zu unserem Schulabschluss ändern wird, aber es bedeutet mir viel, dass er sich nicht von diesem Strom mitreißen lässt und mir Beleidigungen an den Kopf wirft. Es ist ein wohltuendes Gefühl.

Warum ich wegen ihm an dieser Brücke stehe, aber nicht springe? 

Weil er jeden Abend, wenn er vom Tischtennistraining nach Hause kommt, über diese Brücke muss. Er muss sowieso und überhaupt immer über diese Brücke, wenn er nach Hause will, da das Haus seiner Eltern am anderen Ende steht. Es ist schon ein paar Monate her, als ich das herausgefunden habe. Seitdem ist er wie ein Magnet für mich. Er zieht mich an wie ein Metallstück und ich würde meinen Tag grausam beenden, wenn ich ihn nicht abends über die Brücke gehen sehen würde. 

Ich bin keine fanatische Stalkerin, auch wenn sich das im ersten Moment so anhört. Es ist ja auch nicht so, dass ich mit einem Fernglas vor seinem Fenster hocke und beobachte, wie er sich umzieht, wie er seine Hausaufgaben macht oder wie er das Essen isst, das seine Mutter ihm gekocht hat. Alles, was ich will ist, das er abends an dieser Brücke an mir vorbeigeht, auch wenn er mir keine Beachtung schenkt, weil er mich von hinten gar nicht erkennt. Weil er mich wohl überhaupt nicht erkennen würde. 

Oder doch?

Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob er weiß, wer ich bin. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er ein komplett depressives Mädchen an der Brücke stehen sieht und einfach wortlos an ihr vorbeigeht. Dafür war er - nach allem, was ich bisher weiß - einfach nicht der Typ.

Klar, auch Lucas hatte einen Ruf zu verlieren. Würde er sich mit mir abgeben und dabei gesehen werden, würde er das nächste Opfer alberner Beleidigungen und körperlicher Auseinandersetzungen werden. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass es ihn noch härter treffen würde. Jungs sind grundsätzlich ziemlich scheu was körperliche Gewalt gegen Mädchen anbetrifft - auch wenn sie in ihren Augen Abschaum ist. Geschlagen hat mich jedenfalls noch niemand. Bei Lucas wäre das wohl anders. Man würde ihm skrupellos die Zähne ausschlagen und wenn er am Boden liegt sogar noch drauf treten. Quasi wie bei mir. Nur, dass es bei mir auf verbale Art und Weise erfolgt. 

Der Grund, warum er mich nicht anspricht, kann auch einfach der sein, dass wir nichts miteinander zu tun haben. Denn mal ehrlich: Ich würde auch niemanden ansprechen, den ich noch nie zuvor gesehen habe, selbst wenn er an einer Brücke steht und darüber nachdenkt zu springen. Der Unterschied ist nur, dass er nicht weiß, ob ich wirklich mit dem Gedanken spiele.

Still Human - Immer noch Mensch | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt