Kapitel 32 - Transformation

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Es war Montag. Und ich bin - wie angekündigt - nicht zur Schule gegangen. Meine Würgereiz am Vorabend und die damit verbundene Sitzung auf der Toilette hatten meine Eltern zumindest vorübergehend dazu überredet, mich für heute zu entschuldigen. Sie sagten aber, dass sie das beobachten wollen und wenn es mir besser geht, sollte ich bereits am Dienstag wieder zur Schule gehen.

Ich hatte nicht vor, die ganze Woche zu Hause zu bleiben, auch wenn es angesichts der Rückkehr von Mark am Mittwoch die beste Alternative gewesen wäre. Vor meinen Problemen davonlaufen - genau so, wie es Kyra mir vorgeworfen hatte. Ihre Worte klangen in meinen Ohren wieder. Sie hatte Recht. Und ich wusste, dass ich mich nicht ewig vor all dem drücken konnte.

Das Video kursierte bereits im Netz und eigentlich hatte ich Kyra einen Freifahrtsschein geschenkt: Sie könnte heute jedem die Geschichte aus ihrer Sicht der Dinge erzählen und ich wäre nicht dort, um dagegen zu argumentieren. Mit dem Ende dieses Schultages und meiner Rückkehr morgen würde man mich nicht nur fertig machen, weil es sich mittlerweile so eingebürgert hatte, sondern man würde mich auch als kranke Person abstempeln, weil ich die Hand gegen meine Mitschülerin erhoben hatte.

Dennoch fand ich, dass ich jedes Recht dazu hatte. Sie hatte mein Vertrauen missbraucht, mich belogen und die komplette Situation für ihren Vorteil genutzt. Am Ende war ich die geschädigte - und nach all ihren attackierenden Worten war es doch zumindest mein Recht, mich entsprechend zu wehren. Normalerweise war eine Ohrfeige noch viel zu wenig. Da konnte sie sich wirklich glücklich schätzen. Und das Video bewies doch, dass sie danach auf mich losgegangen wäre, wenn Lucas sie nicht zurückgehalten hätte. 

Am Ende würde das aber wohl niemanden interessieren. Die Menschen sahen nur die schlechten Dinge bei Leuten, bei denen sie schlechte Dinge sehen wollten. Ich hatte sowieso nicht den besten Ruf an der Schule. Wenn ich dann auch noch in eine Schublade gepackt werden würde, würde das nur zu meinem gesamten Auftritt passen. Sophie, die Schlägerbraut.

Meine letzte Hoffnung war Tim. Er hatte mir am Samstag garantiert, heute wieder zur Schule zu gehen. Er könnte jede Falschaussage von Lucas und Kyra richtigstellen und die genauen Hintergründe beleuchten. Allerdings hatte Tim mit seiner gebrochenen Nase und die Auswirkungen von Marks Schlägerei selbst genug Storys zu erzählen. Es würde mich wundern, wenn er diese an den selben Stellen erzählen würde, wie Kyra. 

Mein Leben befand sich in einem stetigen Wandel. Die Zeit bleibt nicht stehen. Freunde kommen und gehen. Die Liebe setzt ein und sie setzt aus. Ich hatte nur nicht erhofft und erwartet, dass ich so viele Veränderungen in kurzer Zeit durchmachen müsste. Kyra in mein Leben lassen, Kyra aus meinem Leben streichen. Lucas streichen. Dafür Tim in mein Leben lassen. Ich fühlte mich wie auf einer illegalen Tauschbörse für Freundschaften - und das, obwohl ich all diese Beziehungen gerne behalten hätte.

Am Liebsten hätte ich nie herausgefunden, dass Kyra ein falsches Spiel mit mir getrieben hatte. Dann wäre ich zumindest immer noch mit ihr befreundet und mein Leben würde nicht wieder anfangen, den Bach runter zu gehen. Klar, es wäre eine absolute Fake-Freundschaft und man müsste die ehrlichen Momente zwischen uns suchen, aber zumindest hätte ich dann noch ansatzweise etwas gehabt, woran ich mich klammern könnte. 

Natürlich gab es da immer noch Tim. Aber unsere Beziehung war unsicher, instabil. Ich wusste nicht einmal, wohin das führen würde. Und dann war da immer noch die Angst, von ihm genauso enttäuscht zu werden, wie von allen anderen auch. Er war mit Mark befreundet. Wie sollte das zwischen ihm und mir überhaupt klappen? Und wer sagte mir denn, dass er nicht nur irgendeine Wette mit meinem erklärten Erzfeind hatte, indem es darum ging, wie lang er bräuchte, um mich ins Bett zu kriegen?

Ich war in einer Phase angelangt, in der ich niemandem mehr trauen konnte. Und auch nicht wollte. Mein Zuhause war mein sicherer Hafen. Mama und Papa waren die einzigen, die mir nicht bewusst schaden wollten. Die gesamte Welt stand mit Fackeln und Mistgabeln hinter mir und jagte mich, um mich langsam, aber mit vereinten Kräften zum Scheiterhaufen zu treiben und mich darauf lebendig zu verbrennen. 

Still Human - Immer noch Mensch | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt