Kapitel 24 - Lucas' Geschichte

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Bevor ich selbst in diese Situation geraten bin, habe ich es nie verstanden, wie man so verzweifelt sein konnte, das man selbst mit dem Gedanken spielte, sich das Leben zu nehmen. Für mich war es immer ein Armutszeugnis gewesen, wie man für sich selbst die Entscheidung treffen konnte, mit dem Kämpfen aufzuhören und lieber vor all den Problemen wegzulaufen, statt sich ihnen zu stellen und sie mit aller Macht aus dem Weg zu räumen.

Mittlerweile hatte ich Verständnis für jeden, der in dieser Situation steckte.

Inzwischen war es für mich nachvollziehbar, wieso man aufhörte, zu kämpfen und lieber über den eigenen Tod nachdachte, als das Problem aus der Welt zu schaffen. Irgendwann war schlichtweg der Punkt gekommen, an dem man selbst keine Kraft mehr hatte, um noch einen weiteren Schritt vorwärts zu gehen. Die Einwirkungen auf einen selbst waren irgendwann einfach zu groß und es schien der deutlich einfache Weg zu sein, einfach wegzulaufen, anstatt weiterzukämpfen.

Solange ich mir kein eigenes Bild davon machen konnte, war es mir jedoch ein Rätsel, wie Lucas plötzlich in dieser scheinbar ausweglosen Situation landen konnte. Es machte keinen Sinn, dass ausgerechnet er plötzlich an der Brücke stand und sich seinen eigenen Tod herbeisehnte.

Gut, vielleicht überdramatisierte ich das Ganze auch. Solange ich nicht mit ihm gesprochen hatte, wusste ich nicht, ob er wirklich gerade über Suizid nachdachte. Wenn das jedoch der Fall war, würde ich alles in meiner Macht stehende tun, um ihn aus diesem tiefen Loch herauszuholen und sein Leben wieder lebenswert zu machen. Ich wollte nicht, dass er sein junges Leben einfach so wegwarf - egal, welchen Grund er hatte. Noch während ich durch die asphaltierten, dreckigen Straßen lief, schwor ich mir, ihm keinen weiteren Grund für ein endgültiges Auf Wiedersehen zu geben.

Man konnte es als Ironie des Schicksals bezeichnen, das ausgerechnet ich diese Denkweise pflegte, wo ich doch wochenlang jeden Tag darüber nachgedacht hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen und diesen Schritt nur nicht gegangen bin, weil ich zu feige war. Jedes Mal hatte ich eine neue Ausrede und die Tatsache, dass ich noch keinen Abschiedsbrief an meine Eltern geschrieben hatte, war für mich nach wie vor Dreh- und Angelpunkt und Ausrede Nummer Eins.

Lucas wusste nichts von meinen suizidalen Gedanken, aber vielleicht hatte er sich für diese heikle Thematik gerade den richtigen Ansprechpartner ausgesucht. Jemand, der auch in dieser Phase steckte und schon weitaus mehr Gedanken an den eigenen Tod verloren hatte, als es für ein Mädchen in meinem Alter gesund und vernünftig wäre. Ich wusste wohl besser als jeder andere Mensch, den Lucas kannte, was es bedeutete, in diesem Schlamassel zu stecken und konnte die richtigen Worte finden, um ihn wieder aufzubauen.

Immer, wenn ich an dieser Brücke stand, hätte ich mir auch jemanden gewünscht, der mich einfach verstand. Der meine Situation nachvollziehen konnte und bereit war, mir die Hand zu reichen, um mich von der Brüstung der Brücke wegzuziehen, statt mich immer weiter darauf zugehen zu lassen. Für mich war es wichtig, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie die Anderen bei mir gemacht hatten. Ich wollte helfen und nicht nur dabei zu sehen.

Aus diesem Grund hatte ich keine Minute überlegt, als Lucas mich gefragt hatte, ob ich nicht vorbeikommen könnte. Ich hatte nicht nach Gründen gefragt, sondern ich hatte es einfach getan. Wenn ein Mensch nach Hilfe schrie, dann hatte das Gründe. Und dabei spielte es auch keine Rolle, ob es sich um einen stummen oder um einen lauten Hilfeschrei handelte. Es musste enorme Wichtigkeit haben, wenn er um diese Uhrzeit noch reden wollte oder vielmehr das Bedürfnis hatte, reden zu müssen. Wenn ich ihm schon damit half, wenn ich ihm nur ein offenes Herz schenkte, dann würde ich das tun.

Meine Füße glitten in schnellem Tempo über den nassen Asphalt. Ich dachte nicht darüber nach, Hindernisse wie Pfützen auszuweichen, sondern lief im Zweifelsfall einfach durch. Mir war es wichtig, den direkten Weg zu Lucas zu nehmen - ohne Umwege. Normalerweise brauchte ich von mir zu Hause rund zehn Minuten, um zur Brücke zu kommen. In meinem Lauftempo würde ich es in vier beziehungsweise fünf Minuten schaffen.

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