Es gab einen Moment in meinem Leben, vor dem ich immer schon Angst hatte. Einen Moment, der mir nachts die Träume raubte und mich stundenlang wachhielt und mich über mein Leben nachdenken ließ. Wenn meine Gedanken nur um dieses Thema schwirrten und eine zittrige Gänsehaut meinen Körper erbeben ließ, konnte ich mich kaum noch auf andere Dinge konzentrieren.
Diesen Moment hatte ich erreicht, als Mark mich rücksichtslos unter die Dusche zerrte und mich mitsamt all meiner Klamotten durch liegen ließ. Keiner meiner Mitschüler hatte es für nötig gehalten, nach meinem Wohlbefinden zu schauen. Ich war diesen Menschen egal. Genau, wie mir inzwischen jeder egal war. Mein Leben war das reinste Chaos geworden und jeder, mit dem ich in den letzten Wochen zu tun hatte, hatte sein Zutragen dazu gehabt. Die einen mehr, die anderen weniger.
Mark Thalbach zum Beispiel hatte es immer wieder geschafft, mich zu brechen. Meine ohnehin schon geschundene Seele noch mehr zu verletzen, meine Gefühle auf die Probe zu stellen und mich in ein inneres Chaos zu stürzen. Seine manipulativen Versuche, jeden von mir fernzuhalten, obwohl ich ihm doch gar nichts getan hatte, funktionierten und machten mich somit zum absoluten Außenseiter. Ich hatte gehofft, dass sich diese Dinge ändern, nachdem meine Mitschüler gesehen hatten, wozu er fähig war. Als er Tim mit wenigen Schlägen ins Krankenhaus verfrachtet hatte, hatte jeder im Raum plötzlich diesen angewiderten und zeitgleich abgeneigten Blick im Gesicht - und trotzdem wurde er bei seiner Rückkehr fast wie ein Held empfangen.
Das musste auch für Tim eine unglaublich verletzende Situation gewesen sein. Die Menschen gingen davon aus, dass sie es wie Männer geklärt hatten und alles wieder in Ordnung war, wenn sie miteinander sprachen. Anhand des Gesprächs im Klassenzimmer konnten man jedoch erkennen, das nichts in Ordnung war. Tim hatte Mark diesen Angriff nie verziehen, obwohl er auf eine Anzeige verzichtet hatte. Hätte er damals auf Kyra gehört, hätte er jetzt möglicherweise schon Ruhe vor dem Kerl. Es hatte genug Zeugen gegeben - und die wären verpflichtet gewesen, die Wahrheit zu sagen.
Andererseits konnte ich Tim auch verstehen - und seine Beweggründe, warum er es nicht getan hatte, schienen mehr als plausibel. Es ging nicht nur darum, einen ehemaligen Freund zu verlieren. Es ging auch darum, das Leben eines jungen Menschen zu zerstören und ihn von seinen Eltern zu entreißen. Tim hatte die gleiche Herzensgüte wie ich. Auch ich wäre nicht dazu in der Lage, derart skrupellos zu handeln, auch wenn ich es versucht hatte. Im Nachhinein tat mir aber alles leid, was in irgendeiner Weise attackierend gewirkt hatte.
Mein ernannter Erzfeind hingegen hatte keine Probleme damit, die Leute bewusst gegen den Baum fahren zu lassen. Er lauerte mit einem Messer um die Ecke und steckte es jedem in den Rücken, von dem er sich angegriffen fühlte. Mich hatte er vom ersten Tag an im Visier gehabt, Tim hatte er entsprechend ebenfalls ausgeschaltet. Und im Gegensatz zu Tim und mir, die nicht in der Lage waren, das Leben anderer Menschen zu zerstören, hatte es Mark zu einer regelrechten Leidenschaft werden lassen.
Lucas Schiller hatte meine Gefühlswelt zum ersten Mal so richtig auf den Kopf gestellt. Das erste Mal, als ich ihn sah, war ich sofort hin und weg von ihm. Das Problem war, das man in solchen Momenten nicht in die Köpfe anderer Leute schauen konnte. Wenn man sie nur von der Optik her betrachtete, gingen die Charakterzüge unter. Ich hatte das Vergnügen, Lucas im Laufe meiner Liebe für ihn besser kennen zu lernen - und ich war trotz herber Enttäuschung dankbar dafür.
Erst Lucas hatte mir gezeigt, das in der Liebe Glück und Schmerz ganz nah beieinander lagen. Manchmal verletzte man Menschen unbewusst, wenn man nichts von ihren Gefühlen wusste. Auch hatte er mir gezeigt, das man die Gefühle für einen Menschen nicht einfach abstellen konnte, egal wie sehr man sich bemühte. Egal wie weh mir Lucas getan hätte, in meinem Herzen wäre immer ein Platz für ihn frei gewesen. Mir war bewusst, dass es nie wieder so werden würde wie vorher und unsere Beziehung komplett gescheitert war, aber ich würde jede Menge positive Rückschlüsse aus unserem Verhältnis ziehen.
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Still Human - Immer noch Mensch | ✔
Ficção AdolescenteSophie hasst die Schule, hasst ihr Leben, hasst die Menschen. Der Grund: Mobbing. Seit ihrem Schulwechsel scheint sie keinerlei Anschluss zu finden. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen - und je länger sie in diesem Trott gefa...