Ich könnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sich Tim jetzt auch noch von mir abwendete. Konnte er mich denn nicht wenigstens ein bisschen verstehen? Ich konnte nicht mehr diese schwache Person sein, die jedes Mal zum Opfer der Nation erklärt wurde. Es wurde Zeit, zurückzuschlagen oder zumindest den Eindruck zu vermitteln, nicht mehr ganz so angreifbar zu sein. Das ging aber nicht, wenn ich nichts änderte. Und das wusste Tim genauso, wie ich.
In jedem Fall hatte er sein Wort gehalten: Er hatte mich vor Mark beschützt und meinem Gnadenstoß somit entgegengewirkt. Ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, wenn Mark mich wieder am Schlafittchen gehabt hätte. Dieses Mal wäre ich wohl nicht so glimpflich davon gekommen. Trotz aller Umstände schien Mark immer noch Respekt vor Tim zu haben, ansonsten hätte er sich nicht so zurückdrängen lassen. In den Augen des Fieslings hatte Tim jegliche Glaubwürdigkeit verloren, nachdem er sich wehrlos verhalten hatte, als Mark ununterbrochen auf ihn eingeschlagen hatte.
Für Thalbach war sein ehemals guter Kumpel nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine Person, die um die Existenz rang und die Befürchtung hatte, von allen ausgegrenzt zu werden, weil er nicht mehr nur auf der Seite von Mark stand. Ich musste zugeben, dass mir der Tim besser gefiel, der sich seine eigene Meinung bildete.
Und in diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Das war der Grund, warum Tim schlagartig kein Interesse daran hatte, ein Wort mit mir zu wechseln. Es war nicht, weil er sauer war oder Unverständnis gegenüber meiner Situation zeigen wollte, sondern weil es einen Teil in dieser Sophie gab, den er mochte - und den ich momentan nicht zu zeigen bereit war. Das stimmte aber nur halbwegs. Ihm gegenüber war ich immer noch dieselbe. Nur in Gegenwart von Anderen wollte ich einfach stärker wirken, um nicht mehr Gefahr zu laufen, jedes Mal als Boxsack zu dienen, wenn mal wieder jemand Frust abbauen wollte.
So wie mir der Tim mit der eigenen Meinung, der für Fairness einstand und die Schwachen beschützte, besser gefiel, so gefiel ihm halt die Version der Sophie, die schüchtern und zurückhaltend und keineswegs auf Krawall gebürstet war. Er wollte die Sophie wieder haben, die ihren Emotionen freien Lauf ließ und sich an seiner starken Brust ausheulte, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Es war nicht so, dass diese Sophie komplett von der Bildfläche verschwunden war. Sie existierte immer noch. Nur momentan musste sie sich etwas zurückhalten, damit sie nicht in alte Muster zurückfiel.
Tim wusste, dass er immer nur diese eine Sophie bekommen würde. Er wollte aber, dass ich nicht wie die Menschen wurde, die mir schadeten. Ich sollte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern einfach ich selbst sein. Das war nur leider leichter gesagt, als getan wenn du seit Monaten darum kämpfst, endlich akzeptiert zu werden und alles, was du als Gegenleistung dafür bekamst, nur blöde Sprüche und Ablehnung waren.
Mein Blick blieb den Großteil der Stunde an Tim haften. Ich wollte nicht akzeptieren, dass er mir die kalte Schulter zeigte. Er war mir zu wichtig, außerdem war er die letzte Säule, die mein brüchiges Fundament hielt. Ihn jetzt auch noch gehen zu lassen würde für mich den absoluten Zusammensturz bedeuten. Wenn ich ihm aber wirklich etwas bedeutete - und das hatte er mehrfach angedeutet - dann würde er mir die Chance geben, ihm zu zeigen, dass die echte Sophie immer noch da ist.
Auch fragte ich mich in diesen Momenten, ob er es nach dem Auftritt seines guten Kumpels bereute, keine Anzeige erstattet zu haben. Er bekam dafür weder Dank noch irgendeinen Ausgleich und trotzdem stellte er sich vor Mark und wollte sein Leben nicht versauen. Mal im Ernst: Mit diesem Angriff hätte Mark Tim das Leben versauen können. Nicht nur, dass er ihn hätte ins Grab prügeln können, er hätte ihn auch gänzlich entstellen können. In beiden Fällen hatte er Glück. Alles, was blieb, war eine gebrochene Nase, die bald wieder verheilt sein würde.
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Still Human - Immer noch Mensch | ✔
TeenfikceSophie hasst die Schule, hasst ihr Leben, hasst die Menschen. Der Grund: Mobbing. Seit ihrem Schulwechsel scheint sie keinerlei Anschluss zu finden. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen - und je länger sie in diesem Trott gefa...