Das morgendliche, routinemäßie Aufstehen war weniger schlimm, wenn man wusste, das man zur Schule gehen konnte, ohne einem Mark Thalbach zu begegnen, der den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatte, als sich wie eine Hyäne über dich herzumachen. Mir fiel das Aufstehen deutlich leichter und es war sogar so etwas wie Freude in meinem Körper. Freude auf die Schule und darauf, meine Freunde zu sehen - Kyra und Lucas.
Auch an diesem Morgen musste ich das Angebot meines Vaters, mich zur Schule mitzunehmen, leider ablehnen. Wie jeden Morgen seit unserem ersten Treffen war ich mit Kyra dazu verabredet, morgens zur Schule zu gehen. Das war jetzt unser morgendliches Ritual und es bedeutete mir viel, mit Kyra diesen Weg gehen zu können. Mein Vater nahm das gelassen. Immerhin ersparte er sich damit auch den Umweg zwischen Schule und seinem Arbeitsplatz.
Ich stand schon zwei Minuten länger als sonst an unserem gewohnten Treffpunkt. Die Wolken am Himmel zogen sich zu. Es würde wohl nur noch wenige Minuten dauern, dann würde ein gewaltiger Schauer vom Himmel fallen. Dieser Herbst war bisher ungewöhnlich kalt. Fast so, als hätte sich das Wetter an meine generelle Stimmung angepasst. Obwohl die letzten Tage tatsächlich so voller Glücksmomente waren, dass inzwischen eigentlich die Sonne scheinen müsste und die Temperaturen auf knapp dreißig Grad klettern sollten.
In der Ferne konnte ich schließlich Kyra erkennen, die mit langen Schritten auf mich zugelaufen kam. Bei mir angekommen war sie erst einmal außer Atem und musste nach Luft schnappen, hielt sich an meiner Schulter fest und erhob sich schließlich aus ihrer gebeugten Position, um mir ins Gesicht zu lächeln.
"Sorry... hab verschlafen." gestand sie und grinste mich an.
"Wie konnte das denn passieren?" wollte ich wissen, auch wenn mich das nicht wirklich wunderte.
"Hab heute morgen aus Versehen meinen Wecker ausgemacht, als er geklingelt hat. Hab einen ganz schönen Schreck bekommen, als ich ein weiteres Mal auf den Wecker geschaut hatte und eigentlich nur noch zehn Minuten Zeit hatte. Deswegen trage ich heute auch diese Mütze. Meine Haare sehen furchtbar aus." Na, wenn sie sonst keine größeren Sorgen hatte.
Ich grinste. Man musste Kyra einfach mögen. Sie war auf so vielen Ebenen menschlich und so weit davon entfernt, perfekt zu sein, dass es in ihrer Nähe einfach Spaß machte und das jede Sekunde mit ihr kostbar war. Ihre trockenen Sprüche, ihre Konter, ihr Kleidungsstil, ihr Selbstbewusstsein, ihr Talent für Aufmunterung, ihr Sinn für Gerechtigkeit - das alles machte aus ihr eine weitaus reifere Person, als es der Großteil der Schüler war.
Klar, Kyra hatte auch bereits ein Jahr wiederholt und war somit die Älteste im Jahrgang. Sie schämte sich aber nicht dafür. Zu einem guten Menschen gehörte es auch, seine eigenen Schwächen zu erkennen und diese im besten Fall auszumärzen, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Kyra wusste, was sie konnte - aber noch viel wichtiger war es, zu wissen, was sie nicht konnte. Das ist eine Tatsache, die sie mir unwissentlich mit auf den Weg gegeben hatte.
"Was hast du in der ersten Stunde?" wollte sie wissen, als wir dann endlich beschlossen hatten, uns auf den Weg zu machen.
"Mathe." sagte ich trocken. Die Hausaufgaben habe ich am Vortag zwar fertig bekommen, aber ich kam an vielen Stellen nicht weiter. Mathe und ich würden in diesem Schuljahr auf jeden Fall keine guten Freunde werden.
"Bei Herrn Tartarus?" Kyra zog die Augenbraue hoch. Seit dem ersten Tag hatte sie eine inoffizielle Fehde mit unserem Mathematiklehrer.
"Herr Tabbarius. Aber ja, genau mit dem." verbesserte ich sie mit einem Grinsen.
"Wie öde. Ich hab gleich Kunst." sagte sie auch nicht sonderlich begeistert.
"Bei der Valente?" fragte ich, informiert darüber, dass Frau Valente eine ziemlich durchgeknallte Lehrerin war.
DU LIEST GERADE
Still Human - Immer noch Mensch | ✔
Ficção AdolescenteSophie hasst die Schule, hasst ihr Leben, hasst die Menschen. Der Grund: Mobbing. Seit ihrem Schulwechsel scheint sie keinerlei Anschluss zu finden. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen - und je länger sie in diesem Trott gefa...