Kapitel 14 - Meine neue beste Freundin

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Monatelange Einsamkeit zerrt irgendwann an deinen Kräften. Sie raubt dir die Luft zum Atmen, die Kraft zu kämpfen und den Willen zu Leben. Aber Einsamkeit macht nicht blind. Wenn man als Opfer mit potenziellen Fieslingen in Kontakt kommt, durchschaut man schnell, wer Freund und Feind war und von wem man sich besser distanziert und von wem nicht.

Ich habe mir nicht ausgesucht, mit einigen dieser Menschen mein Leben zu verbringen. Auch habe ich schon längst aufgehört, mit Nachdruck darum zu kämpfen, in den elitären Kreis dieser Schüler aufgenommen zu werden. Alles, was ich wollte, war in Ruhe gelassen zu werden, mein Leben zu leben, den Abschluss zu kriegen und dann mein eigenes Ding zu drehen.

Weit weg von den Menschen, die mein tägliches Leben an dieser Schule zu einem einzigen Terror machten. Noch habe ich nicht aufgegeben, aber man hat mich so oft an die Grenzen des Wahnsinns getrieben, dass es eigentlich eher an ein Wunder grenzt, das diese idyllische Kleinstadt noch keine negative Schlagzeile durch mich erlitten hatte.

Mal ganz davon abgesehen wirkte es auf mich ohnehin so, das hier alles wie geleckt sein musste. Es war fast so, als wurden schlechte Nachrichten einfach weggelächelt und die ganze Stadt kapselte sich vom Chaos in der Welt einfach ab. Nicht einmal über Lucas Bruder hatte das städtische Tageblatt eine Schlagzeile gebracht - und das, obwohl er ein legitimer Bürger dieses Örtchens war. Wer sagte mir also, dass mein Tod nicht völlig umsonst wäre, wenn ich diesen Schritt gehen würde? Wer versicherte mir, das mein Gesicht das Titelblatt zieren würde und nicht nur als Randnotiz noch hinter dem Sportteil erscheinen würde?

Ich plante nicht, diesen Schritt zu gehen, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder im Nachgang berühmt zu werden. Meine Absicht war auf das Thema Mobbing aufmerksam zu machen und als Beispiel dafür zu fungieren, was aus einem Menschen werden kann, wenn er von niemanden akzeptiert werden würde. Auch wenn ich nicht in das Schema F passte, das einigen Schülern hier scheinbar so wichtig war, war ich immer noch ein Mensch.

Laut Grundgesetz stand mir im Paragraphen 1 eine gewisse Würde zu. Die Würde des Menschen sei unantastbar hieß es. Doch wie viele Fälle allein in Deutschland gab es täglich, in denen die Würde von Menschen mit Füßen getreten wurde. Und damit waren nicht nur Schulen und ihre Schüler gemeint, sondern auch Politiker. Für viele Menschen hatte es auch nichts mit Würde zu tun, auf der Straße zu leben - und doch machte sich kein Politiker für die Obdachlosen stark. Niemand unterstützte diese Menschen. 

In der heutigen Gesellschaft war es so, dass du mit einem großen Schild um den Hals durch die Gegend laufen konntest, auf dem "Mobbingopfer" stand und trotzdem erklärte sich keiner dazu bereit, dir zu helfen. Du könntest es dir auf die Stirn tätowieren lassen und trotzdem würde keiner auf die Idee kommen, deinen stummen Hilfeschrei zu erhören. Man durfte bei dieser Denkweise nicht alle Menschen über einen Kamm scheren. Es gab tatsächlich genug Leute, die zur Hilfe bereit waren. Einige setzten sich bis abends ehrenamtlich hinter Telefone und unterstützten Menschen, die nicht mehr weiter wussten. Andere gingen blind an jemanden vorbei, der offensichtlich Hilfe brauchte. 

Heutzutage war sich jeder selbst der Nächste. Solange es einem selbst gut ging, war die Welt schön und bunt. Wenn man selbst jedoch schlagartig in einer Rolle steckte, von der man nie im Leben glaubte, sie jemals anzunehmen, wurde einem erst schmerzlich bewusst, wie viel Hilfe einige Leute brauchen würden. Dann jedoch war man in einem Trott gefangen, aus dem man sich selbst erst einmal befreien musste, ehe man anderen zur Hilfe eilen konnte. Ob das dann überhaupt noch möglich war, durfte in Frage gestellt werden.

Ich war froh endlich einen Menschen kennengelernt zu haben, der anders ist. Jemand, der nicht nur die Sonnenseiten des Lebens sieht, sondern den Ernst der Lage verstanden hatte. Und ich hatte das Gefühl, mich bei ihr geborgen zu fühlen und all meinen Problemen freien Lauf lassen zu können, ohne es irgendwann zu bereuen. Kyra war ein toller Mensch - und meine neue beste Freundin.

Still Human - Immer noch Mensch | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt