Seitdem ich zu Hause eingetroffen war, hatte ich nichts anderes im Kopf, als das bevorstehende Treffen mit Lucas. Es war kein offizielles Date. Wir wollten nur reden. Und trotzdem fühlte es sich an, als stünde ich kurz davor, meinen ersten Kuss zu bekommen.
Vielleicht war ich blind und naiv, verhielt mich mit meinem nervösen Verhalten möglicherweise sogar ziemlich nervig, aber für mich war es eine besondere Situation. Lucas und ich hatten noch nie einen Moment miteinander, was in erster Linie natürlich dem Grund geschuldet war, dass ich immer das Gefühl hatte, dass er nicht einmal von meiner Existenz wusste.
Das hatte sich als Lüge entpuppt, als er mich auf der Brücke angesprochen hatte.
Bei jedem Gedanken und jeden Blick, den ich mit ihm tausche, springt mein Herz höher. Ich laufe rot an, wenn ich ihn sehe und verzweifle jedes Mal, wenn er nicht auf mich zugeht, sondern einen anderen Weg einschlägt. Mein Hirn produzierte nur wirres Zeug, meine Vokabular ließ in seiner Nähe zu wünschen übrig. Ich konnte froh sein, wenn ich überhaupt in der Lage war, irgendein Wort herauszupressen.
So fühlte es sich also an, als Jugendliche Hals über Kopf verliebt zu sein. Ein befremdliches Gefühl. Tatsächlich hatte ich mich in meiner alten Heimat auch bereits in einen Jungen verliebt, aber nie hatte ich ein so merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Es gab wohl doch einen deutlichen Unterschied zwischen 'verknallt' und 'verliebt' und ich bin gerade dabei, die Unterschiede kennen zu lernen.
Man sagte ja, das man sich nicht aussuchen kann, in wem man sich verliebte. Dem pflichtete ich vollkommen bei. Ich war nur froh, das meine Gefühle sich für Lucas entschieden haben, der doch ein deutlich reiferer und netterer Typ war. Das Schicksal hätte sich auch für ein absolutes Arschloch entscheiden können. Nicht auszumalen, wie schlecht es mir gehen würde, wenn ich mich in Marc verliebt hätte.
Das wäre dann wohl vergleichbar mit dem Stockholm-Syndrom.
Verliebte man sich bei diesem Syndrom in den eigenen Entführer und baute eine Art Liebesbeziehung zu ihm auf, wäre es bei mir eher eine Art Beziehung zu meinem Peiniger. Hatte das schon einen Namen? Wenn nicht, würde ich ihm einen geben. Da Parallelen zum Stockholm-Syndrom bestanden, würde ich einfach in der skandinavischen Ecke bleiben und die ganze Geschichte auf 'Oslo-Syndrom' taufen. Ich war mir sicher, dass sich der Begriff durchsetzen würde.
Meine Vorfreude schlug jedoch schlagartig in Verzweiflung über. Bis zum Treffen würde noch etwas Zeit ins Land ziehen, da ich mich aber ohnehin auf nichts anderes konzentrieren konnte, zog ich ernsthaft in Erwägung, mich bereits jetzt darauf vorzubereiten. Ich stand also vor meinem Kleiderschrank, zog verzweifelt die Augenbraue in die Höhe und musterte meine verschiedenen Stapel an Klamotten.
Ich hatte nichts zum Anziehen.
Panik machte sich breit. Ich konnte doch nicht in irgendeinem Outfit dort auftauchen, wo mir das heute doch so wichtig war.
Mir kam aber zum Glück die Lösung meines Problems. Kyra hatte sich als gute Freundin erwiesen und mir bereits vorhin zur Seite gestanden. Auch jetzt wäre sie meiner Helferin in der Not. Im schlimmsten Fall wäre sie wohl sogar bereit, mir Klamotten von sich zu leihen. Sie machte zwar nicht den Eindruck, dass sie wert auf schicke Kleider und atemberaubende Overalls legte, aber sie hatte bestimmt das eine oder andere Schmuckstück in ihrem Kleiderschrank.
Ich griff zu meinem Handy, wählte die Nummer, die ich vorhin eingespeichert hatte und versuchte verzweifelt, Kyra ans Telefon zu kriegen. Tatsächlich nahm sie nach mehrmaligem Klingeln ab.
"Phiphi... was ist los? Hat er abgesagt?" ihre Stimme klang so, als wäre sie auf das schlimmste vorbereitet.
"Nein, zum Glück nicht. Ich brauche deine Hilfe. Ich... ich hab nichts zum Anziehen." noch nie in meinem ganzen Leben musste ich diesen Satz sagen.
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Still Human - Immer noch Mensch | ✔
Teen FictionSophie hasst die Schule, hasst ihr Leben, hasst die Menschen. Der Grund: Mobbing. Seit ihrem Schulwechsel scheint sie keinerlei Anschluss zu finden. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen - und je länger sie in diesem Trott gefa...