Es gab Tage, da bewunderte ich mich immer wieder für meinen Mut. Und das sollte keineswegs eingebildet klingen, doch ich war der festen Überzeugung, dass es genug Menschen gab, die nach einer Demütigung am nächsten Tag zu Hause geblieben wären. Tatsächlich schwebte das auch mir als erstes vor. Ich hatte überlegt, den Weg zur Schule zu meiden, um Mark an diesem Tag aus dem Weg zu gehen.
Mark hatte viele Grenzen des guten Geschmacks überschritten. Er hatte mich unsittlich berührt, er hatte mich zu Boden gedrückt und er hatte mich bespuckt, als sei ich ein Mensch von niederem Wert. Es gab in dieser Situation niemand, der mir hätte zur Seite stehen können. Selbst wenn Tim es gewollt hätte, hätte er es nicht geschafft, sich alleine gegen drei zu behaupten. Da er kurz zuvor aber im Streit mit mir das Klassenzimmer verlassen hatte, konnte er gar nicht wissen, welches Spiel Mark in selbigem mit mir gespielt hatte.
Ich fühlte mich ausgenutzt, benutzt und am Ende meiner Kräfte. Mark schaffte es immer wieder, mir meine Grenzen aufzuzeigen. Wiederholt und wiederholt suchte und fand er eine Möglichkeit, mich am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu kriegen - und jeden weiteren Tag, den ich ihm gegenübertreten musste, hatte ich das Gefühl, dass es immer schlimmer werden würde. Mark war somit das Gegenteil von Tim. Während ich bei Tim das Gefühl hatte, dass er mich vor Maßnahmen, die meiner eigenen Gesundheit schadeten, schützen wollte, wollte Mark mich geradewegs und ununterbrochen ins Verderben reiten.
Wie konnte ich auch so naiv sein zu glauben, dass ein bisschen Make-Up aus mir einen stärkeren Menschen machen würde? Alles, was ich damit geschafft habe, war, den einzigen Menschen von mir zu treiben, der noch auf meiner Seite stand. Tim hatte klare Worte gesprochen, als ich ihn im Klassenraum zur Rede gestellt hatte. Seitdem war der Kontakt eingefroren. Ich war mir nicht sicher, ob das nur zeitweise so sein würde oder ob er überhaupt kein Interesse mehr daran hatte, sich mit mir abzugeben.
Nachdem ich am Vortag - vollkommen fertig durch die Anfeindungen vom zurückgekehrten Mark - die Schule verlassen und nach Hause gekommen war, hatte ich versucht, Kontakt mit Tim aufzunehmen. Ich wollte ihm von diesem Angriff berichten, brauchte jemanden zum Reden, wollte das Gefühl haben, das irgendjemand auf meiner Seite war. Doch Tim hatte auf keine meiner Nachrichten reagiert. Jedes Mal erschienen bei WhatsApp nur die blauen Haken - und das hieß soviel wie "lass mich in Ruhe".
Ich hatte diese Botschaft verstanden und ich konnte seinen Zorn verstehen. Nach kläglich vielen Versuchen, auch nur ein Wort aus ihm herauszubekommen, hatte ich ihm geschworen, mein neues Ich wieder abzulegen und komplett die alte Sophie zu werden. Auch darauf hatte ich keine Antwort bekommen. Ich wusste nicht, ob er das als Lüge abtat oder ob er sich zunächst selbst davon überzeugen wollte. Wenn es in meinem Leben jedoch ein Grundsatz gab, dann jenen, dass ich definitiv kein Versprechen brechen würde.
Die Tage zuvor hatte ich mich immer geweigert, meine neue Sophie abzulegen. Nach den Erfahrungen am Vortag war mir jedoch klar, das die Stärke, die ich hatte, nicht vom Make-Up kam. Sie kam tief aus meinem Herz und ich profitierte durch die Stärke, die Tim mir gegeben hatte. Und da ich noch immer kein Land gegen Mark sah, war ich gewillt, mich wieder auf altes Terrain zu begeben und die Sophie zu sein, in die sich Tim verliebt hatte.
Apropos Tim. Der größte Schock war für mich am nachfolgenden Donnerstag, dass er nicht zur Schule kam. Er selbst hatte mich nicht darüber informiert, aber anhand des leeren Platzes hinter Mark konnte ich erkennen, dass er wohl nicht zur Schule kommen würde. Erneut ergriff ich die Initiative, um ihm zu schreiben. Es war mir ein inneres Bedürfnis, zu wissen, dass es ihm gut ging und das er am Freitag wiederkommen würde. Nicht nur, weil ich mich durch ihn sicher fühlte, sondern auch, weil mir sein Wohl wirklich am Herzen lag.
Und dieses Mal bekam ich tatsächlich eine Antwort.
Sophie Kreuzberger: Hey, alles gut bei dir? Warum bist du nicht in der Schule?
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Still Human - Immer noch Mensch | ✔
Teen FictionSophie hasst die Schule, hasst ihr Leben, hasst die Menschen. Der Grund: Mobbing. Seit ihrem Schulwechsel scheint sie keinerlei Anschluss zu finden. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen - und je länger sie in diesem Trott gefa...