Kapitel 30 - Alles, was noch bleibt

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Ein weiteres Kapitel in meinem Leben hatte ein jähes Ende gefunden: Kyra Beckmann. Und das Tragische an der ganzen Geschichte ist eigentlich nur, dass es so unschön zu Ende ging. Ich hatte in ihr echt eine gute Freundin gefunden. Niemand hatte sich je so konsequent auf meine Seite gestellt, wie sie. Sie war immer für mich da, wenn ich sie gebraucht hatte und war der Wutball, wenn ich mal wieder meine Sorgen loswerden musste.

Eigentlich war ich der Ansicht, dass sich Freunde immer alles sagen können. Kyra war immer eine ehrliche Person, weswegen ich nicht davon ausging, dass sie gelogen hatte, als sie mir sagte, ich sei ein Ichbezogener Mensch, der sich nicht für seine Mitmenschen interessiert. Man könnte ihr unterstellen, das alles im Affekt gesagt zu haben, aber ich habe Kyra als derart berechnend kennengelernt, dass es für mich einfach keinen Sinn macht, dass sie in diesem Fall gelogen hatte.

Es ärgerte mich auch, das Lucas nicht zumindest in diesem Moment Partei für mich ergriffen hatte. Es wäre seine gottverdammte Pflicht gewesen, Kyra zu schildern, wie ich an diesem Abend auf der Brücke an seiner Seite stand und mich seiner Probleme angenommen hatte. Wie ich versucht hatte, ein offenes Ohr für ihn zu haben und ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

Kyra hatte auf mich nie den Eindruck gemacht, dass sie meine Hilfe oder ein offenes Ohr von mir brauchte. Wenn sie Probleme gehabt hätte, hätte sie auf mich zukommen müssen. Das sie eine verdammt gute Schauspielerin war, hatte sie in unserer 'Freundschaft' bewiesen. Aber mir Vorwürfe dafür zu machen, dass ich nicht erkannt habe, wie es ihr ging und das sie selbst Probleme hatte, war unfair.

Zumal ich nicht einmal glaubte, dass sie wirklich Probleme hatte. Sie hatte diese Trumpfkarte doch nur gezogen, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Um mir noch einmal zu verdeutlichen, was für eine schlechte Freundin ich war. Das einzige, was sie tagelang hätte beschäftigen können, wären ihre Gefühle für Lucas gewesen, während sie zeitgleich darauf spekulierte, mich mit ihm zu verkuppeln. Ein falsches Spiel, was sie gespielt hatte. Da gäbe es keine zwei Meinungen. 

Lucas hatte seine Entscheidung getroffen. Er wollte Kyra und der Kuss zwischen uns auf der Brücke war bedeutungslos. Das war eine Reaktion, die man im Affekt hätte machen können. Einen Kuss zum Dank dafür, dass ich ihm nachts zugehört hatte, während er im Regen auf der Brücke saß und über sich und seinen Bruder nachdachte. Dieser Schicksalsschlag von Lucas tat mir innerlich noch immer weh. Es war nicht schön einen Menschen zu verlieren und das hatte er nicht verdient.

Irgendwie konnte ich mich nicht einmal dazu überwinden, Lucas die ganze Schuld an diesem Chaos zu geben. Das lag aber auch daran, dass er im Prinzip nichts dafür konnte. Man konnte ihm vorwerfen, sich auf die falsche Seite gestellt zu haben und keine Partei für mich zu ergreifen, als es bitter nötig war. Aber das er Schuld trug wäre nur ein Wunschgedanke, um den Verlust seiner Liebe besser verkraften zu können. Alle Anklagepunkte könnte man höchstens gegen Kyra erheben. Und die war auch in allen Punkten schuldig.

Stumm schlenderten Tim und ich durch die Straßen. Man konnte deutlich merken, das auch er immer noch fassungslos ob der wüsten Beschimpfungen von Kyra auf mich war. Es war nur ein verbaler Angriff und eigentlich habe ich die Hand gegen sie erhoben, aber ihre Worte waren mindestens genauso schlimm wie die Tatsache, dass mir die Hand ausgerutscht war. Trotzdem hielt ihn das nicht davon ab, meine Hand zu halten und mit mir durch die dreckigen Straßen dieser Kleinstadt zu gehen, während ein kalter Wind über unsere Köpfe hinweg blies und die Straßenlaternen unseren Weg wiesen. 

Ich hatte Tim an diesen Abend als rücksichtsvollen Menschen kennengelernt. Als junger Mann, der zuhören konnte, der sich für mich interessierte und der sich wohl ein bisschen in mich verguckt hatte. Er hatte bei der Konfrontation mit Kyra eine andere Sophie kennengelernt. Eine Sophie, die nicht nur schluckte, sondern auch austeilte. Ich hatte mich für einen Moment selbst verloren. Zu sehr lastete dieses Gewicht des Verrats auf meinen Schultern. Ich hatte das Messer aus dem Rücken gezogen, das Kyra mir rücksichtslos hineingerammt hatte und damit einen Adrenalinstoß freigesetzt, der mich zu einer weiblichen Version des Hulks hätte werden lassen können. 

Still Human - Immer noch Mensch | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt