Kapitel 8 - Versus

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Die Texte, die Bilder und die Facebookseite von Leonhard Schiller haben mich noch die halbe Nacht beschäftigt. Stundenlang saß ich weinend über die Nachrichten und Botschaften, die für den Zwillingsbruder meines Schwarms geschrieben wurden. Und nicht eine Sekunde ließ mich der Gedanke los, was ihn derart beschäftigt hatte, dass er den Freitod gewählt hatte.

In gewisser Weise sah ich einen Seelenverwandten. Auch ich spielte mit dem ernsthaften Gedanken, meinem Leben ein Ende zu setzen. Auch wenn mein wackelndes Fundament gerade die nötige Balance bekam, hatte ich mit dem Gedanken noch nicht abgeschlossen. Das Hauptproblem bestand ja nach wie vor, auch wenn Lucas mich natürlich aus dieser Situation retten könnte.

Ich war in der Nacht lange wach. Habe mir Gedanken darüber gemacht, ob jemand auf meine Facebookseite schreiben würde, wenn ich sterben würde. Ob meine jetzigen Klassenkameraden plötzlich zutiefst betroffen wären, wenn meine Leiche eines morgens ans Ufer angespült werden würde. 

Es ist bewiesen, dass Mobber wehmütig gegenüber ihren Opfern werden, wenn sie diese in den Tod getrieben haben. Plötzlich behaupten sie, die Situation sei vollkommen aus dem Ruder gelaufen und das habe man nicht gewollt. Was erwarten die Menschen denn, wie die Opfer reagieren? Das sie mit verschränkten Armen dastehen und alles an einem vorbeigeht, als wäre man unantastbar? Ein Mensch kann schon ziemlich viel ertragen, aber er ist nicht grenzenlos unbesiegbar, sofern er nicht irgendwann Superkräfte entwickeln würde. 

Für Außenstehende sah es einfach aus, all diese Sprüche wegzustecken und nicht über die Worte nachzudenken. Andere würden wiederum behaupten, das Jungs und Mädchen in unserem Alter das nun einmal so machten: Man neckte sich gegenseitig, um das Interesse füreinander zu signalisieren. 

Ganz so einfach war es aber nicht.

Natürlich gab es freundschaftliches Necken untereinander. Man konnte Witze auf Kosten der anderen Person reißen, ihr Streiche spielen, über sie lachen, gegebenenfalls auch mal eine spaßige Beleidigung in den Raum werfen. Aber das alles sollte keine übertriebenen Ausmaße annehmen. Was Mark und Konsorten in der Schule trieben war übelstes Mobbing. Das hatte überhaupt nichts mehr mit necken zu tun. 

Selbst anwesende Lehrer schienen die Situation zu unterschätzen. Abgesehen von meiner Klassenlehrerin kam nämlich niemand auf mich zu und hat gefragt, ob es sich dabei nur um Späße handelte. Wenn man genau hinhören würde, würde man schnell feststellen, dass das weit unter die Gürtellinie ging. Es verletzte mich. Und trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als darüberzustehen und irgendwie damit klar zu kommen - oder entsprechend den Freitod zu wählen. 

Ich weiß; Meine Lehrerin hatte mir Hilfe angeboten. Doch was brachte es mir, dabei zu helfen, Mark von der Schule werfen zu lassen? Welchen inneren Frieden würde ich damit finden? Dann hätte ich einem anderen Schüler die Zukunft versaut. Nein, ich hatte kein Mitleid mit Mark, aber wenn ich solche Wege gehen würde, wäre ich doch kein Stück besser. Und meine Situation würde es auch nur unerheblich verbessern. Wenn Mark weg war, würde es einen neuen Schüler geben, der die Zügel in die Hand nahm und mich entsprechend in die Enge drängen würde. 

Ich war das Problem. Ich musste weg.

Ob Lucas' Bruder genauso gedacht hatte? In meinem Kopf spielten sich tausende Szenarien ab, was wohl bei Leonhard vorging. Wurde er auch in der Schule gemobbt und waren all diese Beileidsbekundungen nur Heuchelei? Wohl kaum. Wäre das der Fall, hätte Lucas den entsprechenden Personen unter den Texten geantwortet. Außerdem machte Leonhard auf den Bildern auch keinen unglücklichen Eindruck - und er hatte sich oft mit Freunden ablichten lassen.

Andererseits... konnte das als offizielles Indiz gewertet werden? Ich stellte doch auch keine Fotos von mir ins Netz, auf denen ich traurig auf einer Treppe sitze oder auf denen ich schwarze Tränen weine. 

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